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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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seines persönlichen Umgangs mit den Dieben kitzelte angenehm seine Eitelkeit.
    Man hatte ihm gesagt, dass das Rote Kreuz, das heißt die Medizin, ihre Mitarbeiter und in erster Linie die Ärzte eine besondere Position einnähmen in den Augen der Ganovenwelt. Sie seien unberührbar, »exterritorial« für die Transaktionen der Diebe. Mehr noch, die Kriminellen würden die Ärzte im Lager vor jedem Missgeschick schützen. Auf diese schlichte und grobe Schmeichelei fielen und fallen viele Menschen herein. Und jeder Dieb und jeder Arzt im Lager kann das uralte Märchen erzählen, wie die Diebe dem bestohlenen Arzt seine Uhr (seinen Koffer, seinen Anzug, die »Breguet«) zurückgaben, kaum dass sie erfuhren, dass der Bestohlene ein Arzt war. Das ist eine Variante der »Breguet-Uhr von Herriot« . Gängig ist auch die Geschichte vom hungrigen Arzt, den die satten Diebe im Gefängnis gefüttert haben (aus den Übergaben, die die Diebe anderen Bewohnern der Gefängniszelle abnahmen). Es gibt ein paar ähnliche klassische Sujets, die, wie Schacheröffnungen, nach bestimmten Regeln erzählt werden …
    Was ist hier die Wahrheit, worum geht es hier? Es geht hier um eine kalte, strenge und gemeine Berechnung der Ganoven. Und die Wahrheit ist, dass der einzige Fürsprecher des Häftlings (und darunter auch des Diebs) im Lager der Arzt ist. Nicht der Chef, nicht der hauptamtliche KWTsch – der Kulturarbeiter, sondern nur der Arzt erweist dem Häftling tägliche und reale Hilfe. Der Arzt kann einen Menschen ins Krankenhaus legen. Der Arzt kann ihn ein, zwei Tage ausruhen lassen – so etwas ist sehr wichtig. Der Arzt kann ihn irgendwohin an einen anderen Ort schicken oder es nicht tun – bei jeder solchen Verlegung ist die Genehmigung des Arztes erforderlich. Der Arzt kann zu einer leichten Arbeit versetzen, eine niedrigere »Arbeitskategorie« geben, in diesem wichtigen Lebensbereich ist der Arzt fast ganz ohne Kontrolle, und auf jeden Fall ist nicht der örtliche Chef sein Richter. Der Arzt wacht über die Nahrung der Häftlinge, und wenn er nicht selbst beteiligt ist am Vergeuden dieser Nahrung, dann ist es sehr gut. Er kann eine bessere Ration verschreiben. Groß sind die Rechte und Pflichten des Arztes. Und wie schlecht ein Arzt auch sei – trotzdem ist gerade er die moralische Kraft im Lager. Einfluss auf einen Arzt zu haben, das ist erheblich wichtiger als einen Chef »an der Angel« zu haben oder einen Kulturarbeiter zu bestechen. Die Ärzte werden sehr gekonnt bestochen und mit Vorsicht eingeschüchtert, ihnen gibt man wahrscheinlich auch gestohlene Sachen zurück. Übrigens gibt es dafür keine realen Beispiele. Eher kann man an Lagerärzten – auch die Freien nicht ausgenommen – von den Dieben geschenkte gute Anzüge oder »Buxen« sehen. Die Ganovenwelt hat so lange ein gutes Verhältnis zum Arzt, wie der Arzt (oder ein sonstiger medizinischer Mitarbeiter) alle Forderungen dieser unverschämten Bande erfüllt, Forderungen, die in dem Maß wachsen, wie der Arzt sich immer tiefer in seine scheinbar unschuldigen Verbindungen mit den Ganoven verwickelt. Und dann müssen kranke Menschen, müssen abgequälte alte Männer auf der Pritsche sterben, weil ihre Plätze im Krankenhaus von gesunden Ganoven auf Kur besetzt sind. Und wenn der Arzt sich weigert, die Forderungen der Kriminellen zu erfüllen, behandelt man ihn keinesfalls wie einen Vertreter des Roten Kreuzes. Ein junger Moskauer, der Bergwerksarzt Surowoj, weigerte sich kategorisch, eine Forderung der Ganoven zu erfüllen und drei ihrer Leute zur Erholung ins zentrale Krankenhaus zu schicken. Am nächsten Abend brachte man ihn während der Sprechstunde um – zweiundfünfzig Messerstiche zählte der Pathologe. Im Frauenbergwerk weigerte sich eine alte Ärztin, Schizel, einer Ganovin eine Arbeitsbefreiung zu geben. Am nächsten Tag wurde die Ärztin mit dem Beil erschlagen. Eine Krankenpflegerin aus der eigenen Sanitätsabteilung vollstreckte das Urteil. Surowoj war jung, ehrlich und hitzig. Als man ihn getötet hatte, wurde Doktor Krapiwnizkij auf seinen Posten ernannt – ein erfahrener Chef von Sanitätsabteilungen in Strafbergwerken, ein Freier, ein Arzt, der schon vieles gesehen hatte.
    Doktor Krapiwnizkij erklärte einfach, dass er nicht behandeln werde, dass er auch nicht untersuchen werde. Die notwendigen Medikamente werden täglich von Wachsoldaten ausgegeben. Die Zone wird dicht abgeriegelt, und herauslassen wird man nur Tote. Auch über zwei Jahre nach

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