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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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hat,
    Entrang sich ihrer Brust ein Schrei jäh,
    Und vor Gericht der Urteilsspruch
    Wurd’ so zuende nie verlesen.
    Dass das Urteil nicht zu Ende verlesen wurde, rührt die Ganoven immer sehr.
    Höchst charakteristisch ist die Abneigung der Ganoven gegenüber dem Chorgesang. Selbst das auf der ganzen Welt bekannte »Das Schilfrohr rauscht’, es bog im Wind der Baum sich in der dunklen Nacht« konnte die Herzen der Ganoven nicht aufrütteln. »Das Schilfrohr rauscht’« ist dort nicht populär.
    Chorlieder gibt es nicht bei den Ganoven, im Chor singen sie nie, und wenn die
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irgendein unsterbliches Lied anstimmen wie »Ich lebte lustig und fidel« oder »Chas-Bulat«, fällt der Dieb nicht nur niemals ein, sondern hört auch nicht zu – er geht einfach.
    Das Singen der Ganoven ist ausschließlich Sologesang, irgendwo an einem vergitterten Fenster sitzend oder auf der Pritsche liegend, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Der Ganove singt niemals auf Einladung, auf Bitten, sondern jedes Mal sozusagen unerwartet, aus eigenem Verlangen. Wenn er ein guter Sänger ist, verstummen die Stimmen in der Zelle, alle lauschen dem Sänger. Und der Sänger singt, leise, die Worte sorgfältig artikulierend, ein Lied nach dem anderen – natürlich ohne jede Begleitung. Das Fehlen der Begleitung verstärkt sozusagen die Ausdruckskraft des Liedes und ist keineswegs ein Mangel. Im Lager gibt es Orchester, Blas- und Streichorchester, aber all das ist »vom Teufel« – die Ganoven treten extrem selten als Orchestermusiker auf, obwohl das Ganovengesetz eine solche Tätigkeit auch nicht direkt verbietet.
    Dass sich der Gefängnis-»Gesang« ausschließlich als Sologesang entwickeln konnte, ist vollkommen verständlich. Das ist eine historisch entstandene, erzwungene Notwendigkeit. Keinerlei Chorgesang wäre in den Mauern des Gefängnisses zugelassen gewesen.
    Allerdings singen die Ganoven auch in den »Spelunken«, in Freiheit, nicht im Chor. Ihre Festschmäuse und Gelage kommen ohne Chorgesang aus. In diesem Faktum kann man ein weiteres Zeugnis der Wolfsnatur des Diebes sehen, seiner Antikollegialität, vielleicht liegt der Grund auch in den Gewohnheiten des Gefängnisses.
    Unter den Ganoven findet man wenige Freunde des Lesens. Unter Zehntausenden von Ganoven erinnere ich mich nur an zwei, für die das Buch nichts Feindliches, Fremdes und Fernes war. Der erste war der Taschendieb Rebrow, ein angestammter Dieb – sein Vater und älterer Bruder hatten dieselbe Karriere gemacht. Rebrow war ein Junge von philosophischem Schlag, ein Mensch, der sich ausgeben konnte, für wen er wollte, der jedes Gespräch zu allgemeinen Themen mit »Verständnis« führen konnte.
    In seiner Jugend hatte Rebrow auch eine gewisse Bildung erhalten, er hatte am Film-Technikum studiert. In der Familie führte die Mutter, die er liebte, einen erbitterten Kampf um den jüngeren Sohn und versuchte, ihn um jeden Preis vor dem schrecklichen Los von Vater und Bruder zu bewahren. Aber das »Gaunerblut« erwies sich als stärker als die Liebe zur Mutter, und Rebrow gab das Technikum auf und hat sich niemals mit irgendetwas anderem als Diebstählen beschäftigt. Die Mutter stellte den Kampf um den Sohn nicht ein. Sie verheiratete ihn mit einer Freundin ihrer Tochter, einer Dorfschullehrerin. Rebrow hatte sie früher einmal vergewaltigt, aber dann, auf Drängen der Mutter, heiratete er sie, lebte insgesamt glücklich mit ihr und kehrte nach jeder der zahlreichen »abgebrummten« Strafen immer zu ihr zurück. Seine Frau gebar Rebrow zwei kleine Töchter, deren Fotografien er ständig bei sich trug. Seine Frau schrieb ihm oft, tröstete ihn so gut sie konnte, und er »protzte« nie, das heißt prahlte nicht mit ihrer Liebe und zeigte ihre Briefe niemand, obwohl Frauenbriefe immer zum Gemeingut der Ganoven-»Kumpane« wurden. Er war über dreißig Jahre alt. Später trat er zum Diebesgesetz der »
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« über und wurde in einer der zahllosen blutigen Schlachten erstochen.
    Die Diebe begegneten ihm mit Respekt, aber auch mit Abneigung und Argwohn. Die Liebe zum Lesen, überhaupt das Lesen und Schreiben war ihnen zuwider. Rebrows Naturell war für die Kameraden schwierig und darum unbegreiflich und beunruhigend. Die Gewohnheit, seine Gedanken kurz, klar und logisch darzulegen, reizte sie und ließ sie in ihm etwas Fremdes vermuten.
    Bei den Dieben ist es üblich, den eigenen Nachwuchs zu unterstützen, zu füttern, und um jeden »großen« Ganoven wird eine Menge

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