Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Schauspieler, sondern handelnde Person im wirklichen Leben. Der Autor des lyrischen Monologs muss sich nicht in ein Theaterkostüm verkleiden.
Unsere Komponisten haben sich noch nicht mit der Kriminellen-Folklore beschäftigt – von den Versuchen Leonid Utjossows (»Aus dem Kittchen von Odessa«) abgesehen.
Überaus verbreitet und von einer bemerkenswerten Melodie ist das Lied »Das Schicksal«. Die klagende Melodie kann einen empfänglichen Zuhörer manchmal zu Tränen rühren. Einen Ganoven kann das Lied nicht zu Tränen rühren, aber auch der Ganove wird »Das Schicksal« bewegt und feierlich anhören.
Hier ist sein Anfang:
Das Schicksal spielt in allem seine Rolle
Und du entkommst dem Schicksal nie.
Es steuert uns auf allen unsren Wegen
Und du gehst brav, wohin es dich befiehlt.
Der Name des »Hof«poeten, der den Liedtext verfasst hat, ist unbekannt. Im weiteren Verlauf berichtet das »Schicksal« ganz unmittelbar vom väterlichen »Erbe« des Diebes, von den Tränen der Mutter, von der im Gefängnis erworbenen Schwindsucht, und es wird die feste Absicht ausgedrückt, den gewählten Lebensweg bis in den Tod fortzusetzen.
Wer Kraft besitzt, sich mit dem Schicksal anzulegen
Der führe bis zum Ende diesen Kampf.
Der Bedarf der Ganoven an Theater, an Bildhauerei und Malerei ist gleich null. An diesen Musen, an diesen Kunstgattungen hat der Ganove keinerlei Interesse – er ist zu real; seine »ästhetischen« Emotionen sind zu blutig, zu vital. Das ist schon kein Naturalismus mehr – die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind nicht auszumachen, und jene allzu realistischen »Spektakel«, die die Ganoven im Leben darbieten, erschrecken die Kunst wie das Leben.
In einem der Bergwerke an der Kolyma hatten die Ganoven eine Zwanziggrammspritze aus dem Ambulatorium gestohlen. Um sich Morphium zu spritzen? Vielleicht hatte der Lagerfeldscher bei seiner Leitung einige Morphiumampullen gestohlen und sie den Ganoven unterwürfig überreicht?
Oder ist das medizinische Instrument eine große Kostbarkeit im Lager, und man kann den Arzt erpressen und es gegen eine »Erholungspause« für die Ganovenbosse in den Baracken einlösen?
Nichts von alledem. Die Ganoven hatten gehört, dass, wenn man Luft in die Vene eines Menschen einführt, die Luftblasen ein Hirngefäß verstopfen und einen »Embolus« erzeugen. Und der Mensch – stirbt. Man hatte beschlossen, sofort die Richtigkeit der interessanten Auskunft eines unbekannten Medizinarbeiters zu überprüfen. Die Phantasie der Ganoven zeichnete Bilder von geheimnisvollen Morden, die kein Kommissar der Kriminalpolizei aufdeckt, kein Vidocq und Lecoq und kein Wanka Kain .
Die Ganoven holten sich nachts im Isolator irgendeinen hungrigen
frajer
, fesselten ihn und gaben dem Opfer beim Licht einer rußenden Fackel die Spritze. Der Mann war bald tot – der gesprächige Feldscher hatte Recht gehabt.
Der Ganove versteht nichts vom Ballett, aber die Kunst des Volkstanzes, der »Zigeunertanz« gehört von jeher zum »Ehrenspiegel der Jugend« des Ganoven.
Große Tänzer hat die Ganovenwelt immer. Freunde und Veranstalter solcher Tänze gibt es unter den Kriminellen auch genug.
Dieser »Zigeunertanz«, dieser Stepptanz ist keineswegs so primitiv, wie es auf den ersten Blick erscheinen kann.
Unter den »Ballettmeistern« der Ganoven gab es außerordentliche Talente, die eine Rede von Achun Babajew oder den Leitartikel aus der Zeitung von gestern tanzen konnten.
Ich bin sehr schwach, doch wird mir eins nur bleiben –
Den Weg zu gehen, den mein toter Vater nahm.
Sehr verbreitet ist eine alte lyrische Romanze der Verbrecherwelt mit dem »klassischen« Refrain:
Der Mond leuchtet hell auf den spiegelnden Wassern –
in der der Held über die Trennung klagt und die Geliebte bittet:
Solange ich frei bin, sei lieb zu mir, Mädchen
Ich gehör dir, solange ich frei.
Das Gefängnis wird uns trennen, hinter Gittern ich sitzen
Und dein Herr wird mein Kumpan.
Anstelle von »mein Kumpan« läge nahe »ein anderer sein«. Aber der Ganove, der das Lied darbietet, nimmt einen Verstoß gegen das Versmaß, eine Störung des Rhythmus in Kauf, um einen bestimmten, den ihn einzig interessierenden Sinn des Satzes zu bewahren. »Ein anderer«, das ist gewöhnlich, das ist aus der Welt der
frajer
. Und »mein Kumpan« – das entspricht den Gesetzen der Ganovenmoral. Offensichtlich war der Autor dieser Romanze kein Ganove (im Unterschied zu dem Lied »Das Schicksal«, wo die Autorschaft
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