Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Gedichten.
Sie müssen daraus andere, ihnen entsprechende Verse herausziehen. Und diese Verse sind da, dieser Ton des der Welt etwas übelnehmenden, von der Welt gekränkten Menschen ist bei Jessenin vorhanden.
Es gibt noch eine weitere Seite in Jessenins Dichtung, die ihn den Vorstellungen, die in der Ganovenwelt herrschen, dem Kodex dieser Welt annähern.
Es handelt sich um das Verhältnis zur Frau. Der Ganove verachtet die Frau und hält sie für ein niederes Geschöpf. Die Frau verdient nichts Besseres als Hohn, grobe Scherze und Schläge.
An die Kinder denkt der Ganove gar nicht; in seiner Moral gibt es keine Verpflichtungen, keine Vorstellungen, die ihn mit den »Nachkommen« verbinden.
Was seine Tochter einmal wird? Prostituierte? Diebin? Was sein Sohn einmal wird – ist dem Ganoven entschieden gleichgültig. Muss denn der Dieb nicht nach dem »Gesetz« seine Freundin an einen Kameraden mit mehr »Autorität« abtreten?
Statt dessen hast du deine Kinder
In die Welt gestreut.
Die Frau ließt du
Dem Nebenbuhler
Auch hier entsprechen die moralischen Prinzipien des Dichters durchaus jenen Regeln und Geschmäckern, die von der Tradition und dem Leben der Diebe sanktioniert sind.
Und du, du Hexe, sing!
Jessenins Gedichte über betrunkene Prostituierte kennen die Ganoven auswendig und haben sie längst in ihr »Waffenarsenal« aufgenommen. Ganz genauso sind »Das ist ein gutes Lied, ihr kleinen Nachtigallen« und »Nein, du liebst mich nicht, bleibst eine Fremde …« mit einer selbstgemachten Melodie in den »Schatz« der Kriminellen-»Folklore« eingegangen, ebenso wie:
Schnaube nicht, du verspätete Trojka!
Unser Leben ging spurlos dahin.
Es kann sein, dass im Siechenbett morgen
ich ein endlich beruhigter bin.
Das »Siechenbett« ersetzen die singenden Ganoven durch das »Gefängnisbett«.
Der Kult der Mutter neben einem grob-zynischen und verächtlichen Verhältnis zur Frau und Ehefrau ist ein charakteristischer Zug des Lebens der Diebe.
Und in dieser Hinsicht gibt Jessenins Dichtung die Begriffe der Ganovenwelt außerordentlich fein wieder.
Die Mutter ist für den Ganoven Gegenstand der sentimentalen Rührung, sein »Allerheiligstes«. Auch das gehört zu den Anstandsregeln des guten Diebes, zu seinen »geistigen« Traditionen. In Verbindung mit der Grobheit gegenüber der Frau als solcher wirkt das süßlich-sentimentale Verhältnis zur Mutter falsch und verlogen. Doch der Mutterkult ist die offizielle Ideologie der Ganoven.
Den ersten »Brief an die Mutter« (»Lebst du noch, mein liebes Mütterlein«) kennt buchstäblich jeder Ganove. Dieser Vers ist das »Gottes Vögelchen« des Ganoven.
Und auch alle anderen Gedichte Jessenins über die Mutter sind, wenn sie sich in ihrer Popularität auch mit dem »Brief« nicht vergleichen können, bekannt und für gut befunden.
Die Stimmungen in Jessenins Poesie treffen in einem bestimmten Teil mit erstaunlich erahnter Genauigkeit die Vorstellungen der Ganovenwelt. Eben damit erklärt sich auch die große, besondere Popularität des Dichters unter den Dieben.
Um ihre Nähe zu Jessenin irgendwie zu unterstreichen und der ganzen Welt ihre Verbindung zu den Versen des Dichters zu demonstrieren, tätowieren die Ganoven, mit der für sie typischen Theatralik, ihre Körper mit Jessenin-Zitaten. Die populärsten Verse, die man bei sehr vielen jungen Ganoven fand, zwischen verschiedenen sexuellen Bildern, Spielkarten und Grabinschriften:
Wie wenig Weg zurückgelegt
Und wie viel Fehler schon begangen
Oder:
Aber brennen möchte ich ohnegleichen ,
Wer verbrannt ist, kommt nicht mehr in Brand.
Auf Pik-Dame setzt’ ich , doch habe
Schellen-As am Ende ausgespielt.
Ich glaube, dass kein anderer Dichter dieser Welt auf ähnliche Weise propagiert wurde.
Diese außerordentliche Ehre wurde nur Jessenin zuteil, der in der Ganovenwelt »anerkannt« ist.
Die Anerkennung ist ein Prozess. Von einem flüchtigen Interesse bei der ersten Bekanntschaft bis zur Aufnahme von Jessenins Gedichten in die obligatorische »Bibliothek des jungen Ganoven« unter Billigung aller Anführer der Unterwelt vergingen zwei, drei Jahrzehnte. Das waren eben jene Jahre, als Jessenin nicht gedruckt oder wenig gedruckt wurde (»Das Moskau der Schenken« wird bis heute nicht gedruckt). Umso mehr Vertrauen und Interesse weckte der Dichter bei den Ganoven.
Die Ganovenwelt mag keine Gedichte. Die Poesie hat nichts zu suchen in dieser düsteren Welt. Jessenin ist eine Ausnahme.
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