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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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niemand.
    Was an Jessenin ist denn der Ganovenseele nah?
    Vor allem geht durch alle Gedichte Jessenins eine unverhohlene Sympathie für die Welt der Ganoven. Die immer wieder direkt und klar ausgesprochen wird. Wir erinnern uns gut:
    Unterschiedlich nach Art und nach Sorten
    ist dem Schicksal zu teilen lieb.
    Und wäre ich kein Dichter geworden –
    ein Gauner wär heut ich und Dieb.
    Die Ganoven erinnern sich an diese Verse ebenfalls gut. Genauso wie auch an das frühere »Bei den gelben Nesseln …« (1915) und viele, viele andere Gedichte.
    Doch es geht nicht nur um direkte Äußerungen. Es geht nicht nur um die Zeilen von »Mann in Schwarz« , in denen Jessenin eine typische Ganoven-Selbsteinschätzung gibt:
    Jener Mensch war ein Abenteurer und Vagant
    doch von der besten
    und berühmtesten Marke.
    Die Stimmung, die Einstellung, der Ton einer ganzen Reihe von Jessenins Gedichten sind der Ganovenwelt nah.
    Welche verwandten Untertöne hören die Ganoven in Jessenins Poesie?
    Vor allem sind es Töne der Wehmut, alles, was Mitleid weckt, alles, was der »Gefängnissentimentalität« nahekommt.
    Und die Tiere, unsre jüngern Brüder ,
    Niemals ich verletzt mit rohem Schlag.
    Die Verse über den Hund, den Fuchs, über Kühe und Pferde lesen die Ganoven als das Wort eines Menschen, der grausam zu den Menschen ist und zärtlich zu den Tieren.
    Die Ganoven können einen Hund streicheln und ihn gleich darauf lebendig in Stücke reißen – sie haben keine moralischen Barrieren, und ihre Wissbegier ist groß, besonders in der Frage »überlebt er das oder überlebt er das nicht?«. Nachdem er als Kind mit Beobachtungen an abgerissenen Flügeln von eingefangenen Schmetterlingen und einem Vogel mit ausgestochenen Augen begonnen hat, sticht der Ganove, erwachsen geworden, einem Menschen aus demselben puren Interesse die Augen aus wie als Kind.
    Auch hinter Jessenins Tier-Gedichten glauben sie eine verwandte Seele zu spüren. Sie verstehen diese Gedichte nicht in tragischem Ernst. Ihnen erscheint das als gewandte gereimte Deklaration.
    Der Unterton der Herausforderung, des Protestes, der Ausweglosigkeit – für all diese Elemente von Jessenins Poesie haben die Ganoven ein feines Gehör. »Die Stuten, die Schiffe« oder »Pantokrator« lassen sie kalt. Die Ganoven sind Realisten. In Jessenins Gedichten verstehen sie vieles nicht, und das Unverstandene lehnen sie ab. Doch die einfachsten Gedichte aus dem Zyklus »Das Moskau der Schenken« nehmen sie als Empfindung wahr, die zu ihrer Seele, ihrem Unterweltleben mit den Prostituierten und den düsteren Gelagen im Untergrund passt.
    Trunksucht, Gelage, das Lob der Ausschweifung – all das findet Widerhall in der Seele des Ganoven.
    Jessenins Landschaftslyrik, seine Gedichte über Russland lassen sie links liegen – all das interessiert die Ganoven nicht im Geringsten.
    In den Gedichten aber, die sie kennen und die ihnen auf ihre Weise teuer sind, nehmen sie kühne Streichungen vor – so wird im Gedicht »Verström, Harmonika« die letzte Strophe von der Ganoven-Schere abgeschnitten wegen der Worte:
    Ach Liebste, sieh, ich weine ja, ich weine …
    Vergib, vergib … Verzeih …
    Die unflätigen Flüche, die Jessenin in die Gedichte einbaut, stoßen auf immerwährende Begeisterung. Und ob! Denn die Rede jedes Ganoven ist mit den kompliziertesten, raffiniertesten, perfektesten Unflätigkeiten geschmückt – das ist ihr Wortschatz, ihr Alltag.
    Und hier haben sie einen Dichter vor sich, der diese für sie wichtige Seite der Sache nicht vergisst.
    Auch die Poetisierung des Rowdytums befördert Jessenins Popularität unter den Dieben, obwohl er, so könnte es scheinen, damit im Diebesmilieu nicht auf Wohlwollen stoßen dürfte. Denn die Diebe sind bemüht, sich in den Augen der
frajer
deutlich von den Rowdys abzusetzen, sie sind auch tatsächlich ein vollkommen anderes Phänomen als die Rowdys – ein unermesslich gefährlicheres. In den Augen des »einfachen Menschen« allerdings ist ein Rowdy noch schlimmer als ein Dieb.
    Jessenins Rowdytum, das in den Gedichten gefeiert wird, empfinden die Diebe als Begebenheit aus ihrer »Spelunke«, bei ihrem Unterwelt-Schmaus, ihrem übermütigen und düsteren Gelage.
    So wie ihr seid, bin auch ich: verloren
    Wo ich bin, da gibt es kein Zurück.
    Jedes Gedicht aus »Moskau der Schenken« hat Untertöne, die in der Seele des Ganoven Widerhall finden; was interessiert sie die tiefe Menschlichkeit, der lichte Lyrismus von Jessenins

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