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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Bemerkenswert, dass seine Biographie, sein Selbstmord für seinen Erfolg hier keinerlei Rolle spielte.
    Selbstmorde kennen die Berufskriminellen nicht, der Prozentsatz von Selbstmorden unter ihnen ist gleich null. Den tragischen Tod Jessenins haben die gebildetsten Diebe damit erklärt, dass der Dichter doch kein richtiger Ganove war, er war etwas wie ein »Grünling«, ein »verdorbener
frajer
«, von dem sozusagen alles zu erwarten ist.
    Aber natürlich – und das wird jeder Ganove sagen, ob gebildet oder ungebildet –, Jessenin hatte einen Tropfen »Gaunerblut«.

Wie man »Rómans stanzt«
    Gefängniszeit ist lange Zeit. Die Gefängnisstunden sind endlos, weil sie einförmig sind, ohne Handlung. Das Leben im Zeitraum vom Wecken bis zum Zapfenstreich wird regiert von einem strengen Reglement, und in diesem Reglement verbirgt sich ein musikalisches Prinzip, ein bestimmter regelmäßiger Rhythmus des Gefängnislebens, der eine ordnende Strömung in den Fluss der individuellen seelischen Erschütterungen und persönlichen Dramen bringt, die von außen hereingetragen werden, aus der lärmenden und bunten Welt jenseits der Gefängnismauern. Zu dieser Kerker-Sinfonie gehört auch der in Quadrate zerschnittene Sternenhimmel und der Sonnenfleck auf dem Gewehrlauf des Postens auf dem Wachturm, der in seiner Architektur einem Hochhaus ähnelt. Zu dieser Sinfonie gehört auch der unvergessliche Ton des Gefängnisschlosses, sein musikalischer Klang, der dem Klang alter Kaufmannstruhen gleicht. Und vieles, vieles mehr.
    In der Gefängniszeit gibt es wenig äußere Eindrücke – darum erscheint die Zeit der Haft später als schwarzer Abgrund, als Leere und tiefe Bodenlosigkeit, aus der das Gedächtnis mit Anstrengung und Unlust irgendein Ereignis hervorholt. Selbstverständlich – denn der Mensch erinnert sich nicht gern an das Schlechte, und das Gedächtnis, das gehorsam den geheimen Willen seines Besitzers ausführt, schiebt die unangenehmen Ereignisse in die dunkelsten Ecken. Und sind das denn Ereignisse? Die Maßstäbe der Begriffe sind verschoben, und die Gründe für einen blutigen Gefängnisstreit erscheinen einem »Außenstehenden« vollkommen unbegreiflich. Später wird diese Zeit ohne Handlung und leer erscheinen; es wird scheinen, dass die Zeit schnell verflogen ist, umso schneller verflogen ist, als sie sich lange hinzog.
    Doch das Uhrwerk ist dennoch keineswegs fiktiv. Das Uhrwerk bringt Ordnung in das Chaos. Es stellt jenes geographische Netz von Längen- und Breitenkreisen dar, in das die Inseln und Kontinente unserer Leben eingezeichnet sind.
    Diese Regel gilt auch im gewöhnlichen Leben, aber im Gefängnis erscheint sie noch nackter, noch absoluter.
    Und in eben diesen langen Gefängnisstunden vertreiben sich die Diebe die Zeit nicht nur mit »Erinnerungen«, nicht nur mit der Prahlerei voreinander, einer entsetzlichen Angeberei, der Ausmalung ihrer Plünderungen und sonstigen Raubzüge. Diese Erzählungen sind Erfindung, ein künstlerisches Simulieren von Ereignissen. In der Medizin gibt es den Ausdruck »Aggravation« – Übertreibung, wenn eine unbedeutende Krankheit als schweres Leiden ausgegeben wird. Die Erzählungen der Diebe gleichen diesen Übertreibungen. Eine Kupferkopeke Wahrheit wird zum öffentlich eingetauschten Silberrubel.
    Der Ganove erzählt, mit wem er »gelaufen« ist, wo er früher gestohlen hat, empfiehlt sich seinen unbekannten Kameraden, erzählt vom Aufbrechen uneinnehmbarer Müller-Panzerschränke , während sich in Wirklichkeit sein »Einbruch« auf die Wäsche beschränkte, die er bei einer Datscha vor der Stadt von der Leine genommen hat.
    Die Frauen, mit denen er gelebt hat, waren ungewöhnliche Schönheiten und besaßen fast ein Millionenvermögen.
    In all diesem Geflunker, »Memoiren«-Geflunker, gibt es, neben einem bestimmten ästhetischen Genuss an der Erzählung – einem Vergnügen für den Erzähler wie für die Zuhörer –, etwas Wichtigeres und wesentlich Gefährlicheres.
    Diese Gefängnis-Übertreibungen sind das Propaganda- und Agitationsmaterial der Ganovenwelt, Material von nicht geringer Bedeutung. Diese Erzählungen sind die Ganovenuniversität, der Lehrstuhl ihrer schrecklichen Wissenschaft. Die jungen Diebe hören den »Alten« zu und festigen ihren Glauben. Die Milchbärte bekommen Ehrfurcht vor den Helden der beispiellosen Großtaten und träumen davon, selbst etwas Ähnliches zu vollbringen. Der Neubekehrte gliedert sich ein. Diese Unterweisungen merkt

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