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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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war mit einem Satz bei dem Ankömmling, packte den Ankömmling mit schnellen geschickten Bewegungen an den Ellbogen und stieß ihn aus der Baracke. Oska war in seinem früheren Leben Geschichtslehrer an irgendeiner Hochschule gewesen.
    Viele Tage lang kreischte Krists Schaufel und rieselte der Sand. Kostotschkin hatte schnell begriffen, dass hinter Krists ausgefeilter Bewegungstechnik schon längst keine Kraft mehr stand, und wie sich Krist auch bemühte – seine Schubkarren waren immer etwas weniger gefüllt als nötig – das hängt ja nicht vom eigenen Willen ab, das Maß diktiert ein inneres Gefühl, das die Muskeln – alle Muskeln – steuert, gesunde und kraftlose, junge und schwindene, abgezehrte. Jedesmal stellte sich heraus, dass bei der Vermessung der Schürfgrube, in der Krist arbeitete, weniger geschafft war, als der Brigadier von der Professionalität der Bewegungen des Künstlers der Schaufel erwartete. Aber Kostotschkin schikanierte Krist nicht, er beschimpfte ihn nicht mehr als die anderen, machte sich nicht in Gefluche Luft und erteilte keine Belehrungen. Vielleicht verstand er, dass Krist mit voller Kraft arbeitete und nur schonte, was man keinem Brigadier zuliebe und in keinem Lager der Welt aufzehren kann. Oder er spürte es, wenn er es nicht verstand, denn unsere Gefühle sind viel reicher als die Gedanken – die blutleere Sprache des Häftlings gibt nicht seine ganze Seele preis. Auch die Gefühle verblassen und erschlaffen, jedoch viel später als die Gedanken, viel später als die menschliche Rede, als die Sprache. Krist arbeitete wirklich, wie er schon lange nicht mehr gearbeitet hatte – und auch wenn das, was er schaffte, für die zweite Kategorie nicht genügte, bekam er diese zweite Kategorie. Für seinen Eifer, seinen Fleiß …
    Denn die zweite Kategorie war das höchste, was Krist erreichen konnte. Die erste bekamen Rekordarbeiter, die den Plan zu hundertzwanzig Prozent oder mehr erfüllten. In Kostotschkins Brigade gab es keine Rekordarbeiter. Es gab in der Brigade sowohl dritte Kategorie, die die Norm erfüllten, als auch vierte – diese erfüllten nicht die Norm, sondern nur achtzig bis siebzig Prozent. Aber trotzdem waren sie keine offenen Drückeberger, für die die Strafnorm vorgesehen war, die fünfte Kategorie. Solche gab es in der Brigade Kostotschkin ebenfalls nicht.
    Tag um Tag verging, Krist wurde schwächer und schwächer, und die demütige Stille in der Baracke der Brigade Kostotschkin gefiel Krist immer weniger. Eines Abends aber nahm Oska, der Geschichtslehrer, Krist beiseite und sagte ihm leise: »Heute kommt der Kassierer. Der Brigadier hat dir Geld angewiesen, das sollst du wissen …« Krists Herz klopfte. Also hat Kostotschkin Krists Eifer, seine Kunst gewürdigt. Dieser Brigadier aus Charbin, der den Namen Einsteins kennt, hat doch ein Gewissen.
    In den Brigaden, wo Krist früher gearbeitet hat, wurde ihm niemals Geld angewiesen. In jeder Brigade hatte es immer Würdigere gegeben, oder tatsächlich physisch Stärkere und besser Arbeitende, oder einfach die Freunde des Brigadiers, mit solch fruchtlosen Überlegungen hatte sich Krist niemals beschäftigt und nahm jede Essensmarke – und die Kategorien änderten sich alle zehn Tage, die Prozente berechneten sich nach der zurückliegenden Produktion – als einen Wink des Schicksals, als Glück oder Unglück, Erfolg oder Misserfolg, die vergehen, wechseln, nicht ewig sein werden.
    Die Nachricht von dem Geld, das man Krist heute Abend zahlen würde, erfüllte Krists Seele und Körper mit einer heißen, unbändigen Freude. Es zeigt sich, dass für die Freude Gefühle und Kräfte vorhanden sind. Wie viel Geld mögen sie zahlen?.. Auch schon fünf, sechs Rubel – selbst das sind fünf, sechs Kilogramm Brot. Krist hätte Kostotschkin anbeten können und erwartete ungeduldig das Ende der Arbeit.
    Der Kassierer kam. Das war ein ganz gewöhnlicher Mann, aber in einem guten Halbpelz, ein Freier. Mit ihm kam ein Wachsoldat, der seinen Revolver oder Pistole irgendwo versteckt oder seine Waffe auf der Wache gelassen hatte. Der Kassierer setzte sich an den Tisch und öffnete seine Aktentasche, prall gefüllt mit abgenutzten verschiedenfarbigen Geldscheinen, die an ausgewaschene Lumpen erinnerten. Der Kassierer zog eine eng linierte Liste hervor, vollgekritzelt mit allerlei Unterschriften – der angesichts ihres Lohns Erfreuten oder Enttäuschten. Der Kassierer rief Krist zu sich und zeigte ihm eine mit einem »Häkchen«

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