Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Körperstrafen. Den Begleitposten, den Aufsehern verziehen die Häftlinge Schläge und Stöße leicht, sie verziehen sie den eigenen Brigadieren, doch sie schämten sich für den Abschnittschef, diesen parteilosen Ingenieur. Kisseljows Aktivität empörte selbst die, deren Gefühle in vielen Haftjahren abgestumpft waren, die so einiges gesehen, die die große Teilnahmslosigkeit gelernt hatten, die das Lager in den Menschen heranzieht.
Es ist entsetzlich, das Lager zu sehen, und kein Mensch auf der Welt darf das Lager kennen. Die Lagererfahrung ist vollständig negativ, bis auf den letzten Moment. Der Mensch wird nur schlechter. Und anders kann es nicht sein. Im Lager gibt es vieles, was der Mensch nicht sehen darf. Aber den Tiefpunkt des Lebens zu sehen, ist nicht das Schrecklichste. Das Schrecklichste ist, wenn der Mensch beginnt, eben diesen tiefsten Punkt – für immer – in seinem eigenen Leben zu spüren, wenn er seine moralischen Maßstäbe aus der Lagererfahrung entlehnt, wenn die Ganovenmoral im freien Leben zur Anwendung kommt. Wenn der menschliche Verstand nicht nur der Rechtfertigung dieser Lagergefühle dient, sondern wenn er diesen Gefühlen selbst dient. Ich kenne viele Intellektuelle – und auch nicht nur Intellektuelle –, die eben die Maßstäbe der Ganoven zu den heimlichen Maßstäben ihres Verhaltens in Freiheit gemacht haben. Im Kampf dieser Leute gegen das Lager hat das Lager die Oberhand behalten. Dazu gehört die Aneignung der Moral »lieber stehlen als bitten«, dazu gehört die falsche Ganovenunterscheidung zwischen der persönlichen und der staatlichen Ration. Dazu gehört das allzu freie Verhältnis zu allem, was vom Staat kommt. Beispiele der Zerstörung gibt es viele. Ein moralischer Maßstab, eine Grenze ist sehr wichtig für den Häftling. Das ist die wichtigste Frage seines Lebens. Ist er Mensch geblieben oder nicht.
Die Unterscheidung ist sehr fein, und schämen muss man sich nicht der Erinnerungen daran, wie man ein »
dochodjaga
« war, ein »Docht«, wie man rannte wie eine »Kanaille mit Kochgeschirr« und in Abfallgruben wühlte, schämen muss man sich der übernommenen Ganovenmoral – selbst wenn sie zumindest die Möglichkeit gab, als Ganove zu überleben, sich als »
bytowik
« zu geben und so zu benehmen, dass um Himmelswillen weder der Chef noch die Kameraden erführen, ob du Artikel 58 hast oder 162 oder irgendein Dienstvergehen – Veruntreuung, Pflichtverletzung. Kurz, der Intellektuelle möchte eine Soja Kosmodemjanskaja des Lagers sein, mit den Ganoven – Ganove, mit den Kriminellen – Krimineller. Er stiehlt und trinkt und freut sich sogar, wenn er ein Strafmaß nach einem Sozial-Artikel bekommt, endlich ist das verfluchte Brandmal des »Politischen« von ihm genommen. Und politisch ist er ja niemals gewesen. Es gab im Lager keine Politischen. Das waren erdachte, imaginäre Feinde, mit denen der Staat abrechnete wie mit echten Feinden – er erschoss sie, brachte sie um, ließ sie verhungern. Stalins Todes-Sense mähte unterschiedslos alle dahin, die auf irgendwelchen Verteilungsplänen, Listen und Plantabellen standen. Unter den Lagertoten gab es denselben Prozentsatz von Halunken und Feiglingen wie auch in Freiheit. Alle waren zufällige Leute, es waren Gleichgültige, Feiglinge, Krämerseelen und sogar Henker, die zufällig zu Opfern wurden.
Das Lager war eine große Prüfung der moralischen Kräfte des Menschen, der gewöhnlichen menschlichen Moral, und neunundneunzig Prozent der Menschen bestanden diese Prüfung nicht. Wer sie bestand – starb gemeinsam mit denen, die sie nicht bestanden hatten, in seinem Bestreben, besser zu sein als alle, fester als alle – nur für sich selbst …
Es war spät im Herbst, dichtes Schneetreiben. Eine junge Ente, Nachzüglerin im Vogelzug, kam gegen den Schnee nicht an und verlor die Kräfte. Auf dem Platz brannte ein »Jupiter«-Scheinwerfer, und die Ente, von seinem kalten Licht betrogen, stürzte sich, mit den schwer gewordenen, nassen Flügeln schlagend, in den Scheinwerfer wie in die Sonne, wie in die Wärme. Doch das kalte Licht des Scheinwerfers war kein Sonnenlicht, das Leben spendet, und die Ente kämpfte gegen den Schnee nicht mehr an. Die Ente setzte sich auf den Platz vor dem Stollen, wo wir – Skelette in zerrissenen Wattejacken – uns zum Halali der Begleitposten mit der Brust gegen den Stab der Winde stemmten. Sawtschenko fing die Ente mit den Händen. Er wärmte sie an seiner Brust, seiner knochigen
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