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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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diese Nacht nicht geschlafen, um zur Wache zu laufen oder zur Wohnung des Chefs. Von der Arbeit des Tages erschöpft, stahl sich der rechtgläubige Zuträger die Nachtruhe, quälte sich, litt und »dokumentierte«. Aber wer? Wir waren zu viert gewesen bei diesem Gespräch. Ich selbst – hatte mich nicht angezeigt, das wusste ich genau. Es gibt im Leben Situationen, wo ein Mensch selbst nicht weiß, hat er seine Kameraden denunziert oder nicht. Zum Beispiel die endlosen Reuebekundungen aller möglichen Abweichler von der Parteilinie. Sind das Denunziationen oder nicht? Gar nicht zu reden vom Vergessen der eigenen Aussagen unter der Einwirkung der heißen Lötlampe. Auch das kam vor. Noch heute läuft ein Professor durch Moskau, ein Burjate, mit Narben von der Lötlampe des Jahres 37 im Gesicht. Wer sonst? Sawtschenko? Sawtschenko hatte neben mir geschlafen. Der Ingenieur Wronskij? Ja, der Ingenieur Wronskij. Er war es. Ich musste mich beeilen, und ich schrieb einen Zettel.
    Am Abend des nächsten Tages kam mit einem durchreisenden Fahrzeug die elf Kilometer aus Arkagala der Arzt, der Häftling Kunin. Ich kannte ihn ein wenig, aus dem Durchgangslager früherer Jahre. Nach der Untersuchung der Kranken und der Gesunden zwinkerte mir Kunin zu und begab sich zu Kisseljow.
    »Na, wie war die Untersuchung? In Ordnung?«
    »Ja, beinahe, beinahe. Ich habe eine Bitte an Sie, Pawel Dmitrijewitsch.«
    »Zu Diensten.«
    »Lassen Sie Andrejew nach Arkagala fahren. Die Einweisung gebe ich Ihnen.«
    Kisseljow brauste auf:
    »Andrejew? Nein, Sergej Michajlowitsch, wen Sie wollen, aber nicht Andrejew.« Und er lachte. »Das ist, wie soll ich es Ihnen vornehm ausdrücken – mein persönlicher Feind.«
    Es gibt zwei Schulen von Lagerchefs. Die einen sind der Ansicht, dass man alle Häftlinge, und nicht nur Häftlinge, jeden, der den Chef persönlich geärgert hat, schnellstens an einen anderen Ort verlegen, wegschicken, von seiner Arbeit entlassen soll.
    Die andere Schule ist der Ansicht, dass man alle Beleidiger, alle persönlichen Feinde nah bei sich, im Auge behalten und persönlich die Wirksamkeit jener Strafmaßnahmen prüfen soll, die sich der Chef zur Befriedigung seiner Selbstliebe, seiner Grausamkeit hat einfallen lassen. Kisseljow hing den Prinzipien der zweiten Schule an.
    »Ich will nicht darauf beharren«, sagte Kunin. »Ich bin, offen gesagt, keineswegs darum angereist. Hier sind die Protokolle, es sind ziemlich viele«, Kunin knöpfte eine abgeschabte Zelttuchmappe auf, »Protokolle über Schläge. Ich habe sie noch nicht unterschrieben. Wissen Sie, meine Einstellung in diesen Dingen ist ziemlich einfach, man kann sagen ›volkstümlich‹. Tote lassen sich nicht wiederbeleben, gebrochene Knochen nicht kleben. Und es gibt auch keine Toten in diesen Protokollen. Von den Toten spreche ich bloß so, um der schönen Worte willen. Ich will Ihnen nichts Böses, Pawel Dmitrijewitsch, und ich könnte gewisse ärztliche Gutachten abmildern. Nicht verschwinden lassen, aber eben abmildern. Das Vorgefallene darstellen – aber milder. Aber angesichts Ihres nervlichen Zustands will ich Sie natürlich nicht mit einer persönlichen Bitte behelligen.«
    »Nein, nein, Sergej Michajlowitsch«, sagte Kisseljow und hielt den vom Schemel aufgestandenen Kunin an den Schultern zurück. »Wozu denn? Können Sie diese dummen Protokolle nicht einfach zerreißen? Nämlich, Ehrenwort, im Eifer … Und dann sind das solche Halunken. Sie bringen jeden soweit.«
    »Ob diese Halunken jeden soweit bringen, dazu habe ich meine eigene Meinung, Pawel Dmitrijewitsch. Aber die Protokolle … Zerreißen kann ich sie natürlich nicht, aber immerhin abmildern.«
    »Dann tun Sie das!«
    »Ich würde es gern tun«, sagte Kunin kalt und sah Kisseljow direkt in die Augen. »Aber ich habe Sie ja gebeten, so einen
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nach Arkagala zu verlegen, diesen
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Andrejew – und Sie wollen davon nichts hören. Sie haben gelacht, und das wars …«
    Kisseljow schwieg.
    »Dreckskerle seid ihr alle«, sagte er. »Schreiben Sie eine Überweisung ins Krankenhaus.«
    »Das macht der Feldscher Ihres Abschnitts auf Ihre Anweisung«, sagte Kunin.
    Am selben Abend wurde ich mit der Diagnose »akute Blinddarmentzündung« nach Arkagala gebracht, in die Hauptlagerzone, und sah Kisseljow nie wieder. Aber es verging kein halbes Jahr, bis ich von ihm hörte.
    In den dunklen Schlägen wurde mit der Zeitung geraschelt und gelacht. In der Zeitung war die Nachricht vom plötzlichen

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