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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Brust, und trocknete ihre Federn mit seinem hungrigen und kalten Körper.
    »Essen wir sie?«, sagte ich. Obwohl die Mehrzahl hier reine Formsache war – es war Sawtschenkos Jagd, seine Beute, und nicht meine.
    »Nein. Ich gebe sie lieber …«
    »Wem? Dem Begleitposten?«
    »Kisseljow.«
    Sawtschenko trug die Ente ins Haus, in dem der Abschnittschef wohnte. Die Frau des Abschnittschefs brachte Sawtschenko zwei Brotstücke heraus, um die dreihundert Gramm, und goss ihm ein ganzes Kochgeschirr dünne Sauerkrautsuppe ein. Kisseljow wusste, wie man Häftlinge bezahlt, und hatte es seiner Frau beigebracht. Enttäuscht schluckten wir dieses Brot hinunter – Sawtschenko das größere, ich das kleinere Stück. Die Suppe leckten wir auf.
    »Hätten wir die Ente lieber selbst gegessen«, sagte Sawtschenko traurig.
    »Wir hätten sie Kisseljow nicht bringen sollen«, bekräftigte ich.
    Zufällig am Leben geblieben nach dem verheerenden Jahr achtunddreißig, wollte ich mich den bekannten Qualen nicht noch einmal aussetzen. Nicht noch einmal die täglichen, stündlichen Erniedrigungen mitmachen, die Schläge, die Verhöhnung, die Streitereien – mit dem Begleitposten, mit dem Koch, mit dem Badehauswärter, mit dem Brigadier, mit jedem Chef –, den unendlichen Kampf um ein Stück Essbares; und nicht den Hungertod sterben – den morgigen Tag, der nicht anders sein würde, noch erleben.
    Ich musste die letzten Reste des zerrütteten, erschöpften, gemarterten Willens zusammennehmen und Schluss machen mit der Verhöhnung, und sei es um den Preis des Lebens. Das Leben ist kein gar so hoher Einsatz im Lager-Spiel. Ich wusste, dass alle anderen genauso denken und es nur nicht sagen. Und ich fand einen Weg, Kisseljow loszuwerden.
    Anderthalb Millionen Tonnen halbfette Kohle, die an Heizwert der aus dem Donbass nicht nachsteht, das war der Kohlevorrat von Arkagala, des Kohlereviers der Kolyma-Region – in der die Laubbäume, verkrüppelt von der Kälte über dem Kopf und dem Dauerfrostboden unter den Wurzeln, die Reife mit dreihundert Jahren erreichen. Jedem Chef an der Kolyma ist bei einem solchen Wald die Bedeutung der Kohlevorräte klar. Darum kamen die obersten Chefs der Kolyma oft ins Bergwerk nach Arkagala.
    »Sobald ein hoher Chef in Arkagala anreist – Kisseljow in die Fresse hauen. Öffentlich. Sie werden ja bestimmt durch die Baracken, durchs Bergwerk gehen. Aus der Reihe treten – und ohrfeigen.«
    »Und wenn sie dich erschießen, wenn du aus der Reihe trittst?«
    »Sie erschießen mich nicht. Sie erwarten das nicht. Mit dem Ohrfeigen-Einfangen haben die Chefs an der Kolyma wenig Erfahrung. Und du gehst ja nicht zu dem angereisten Chef, sondern zu deinem Einsatzleiter.«
    »Du bekommst eine Haftstrafe.«
    »Vielleicht bekomme ich zwei Jahre. Für so eine Kanaille bekomme ich nicht mehr. Und die zwei Jahre muss ich auf mich nehmen.«
    Keiner der Kolyma-Veteranen rechnete damit, lebend aus dem Norden zurückzukehren – eine Haftstrafe hatte für uns keine Bedeutung. Wenn sie uns nur nicht erschießen, erschlagen. Und selbst das …
    »Und dass sie Kisseljow nach der Ohrfeige von uns abziehen, versetzen, entfernen – ist klar. Bei der obersten Leitung gilt ja eine Ohrfeige als Schande. Wir Häftlinge denken das nicht, und Kisseljow wahrscheinlich auch nicht. So eine Ohrfeige schallt über die ganze Kolyma.«
    Nach diesen Träumereien vom Wichtigsten in unserem Leben, am Ofen, an der erkaltenden Feuerstelle, kroch ich auf die obere Pritsche, meinen Platz, wo es wärmer war, und schlief ein.
    Ich schlief ohne jeden Traum. Am Morgen führte man uns zur Arbeit. Die Tür des kleinen Kontors ging auf, und der Abschnittschef trat über die Schwelle. Kisseljow war kein Feigling.
    »He, du«, schrie er, »vortreten.«
    Ich trat vor.
    »Soso, schallt über die ganze Kolyma? Wie? Pass nur auf …«
    Kisseljow schlug mich nicht, er holte nicht einmal anstandshalber, zur Wahrung der eigenen Chef-Würde, aus. Er drehte sich um und ging. Von jetzt ab musste ich sehr vorsichtig sein. Kisseljow kam nicht mehr zu mir und erteilte mir keinen Verweis – er schloss mich einfach aus seinem Leben aus, aber mir war klar, dass er nichts vergisst, und manchmal spürte ich im Rücken den hasserfüllten Blick eines Menschen, der noch kein Mittel der Rache ersonnen hat.
    Ich dachte viel nach über das große Wunder des Lagers – das Wunder des Anzeigens, das Wunder des Verpfeifens. Wann hatte man es Kisseljow angezeigt? Also hatte der Zuträger

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