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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Tod Kisseljows abgedruckt. Zum hundertsten Mal erzählte man die Details, sich vor Freude verhaspelnd. Nachts war in die Wohnung des Ingenieurs ein Dieb durchs Fenster eingedrungen. Kisseljow war kein Feigling, an seinem Bett hing immer eine geladene Doppelflinte. Als er Rascheln hörte, sprang Kisseljow aus dem Bett, spannte die Hähne und stürzte ins andere Zimmer. Der Dieb, der die Schritte des Hausherrn hörte, stürmte zum Fenster und hielt sich beim Ausstieg durchs enge Fenster einen Moment auf.
    Kisseljow schlug den Dieb von hinten mit dem Kolben, wie im Abwehrnahkampf, ganz nach den Regeln, die man allen Freien im Krieg beibrachte – man hatte ihnen irgendwelche altväterlichen Methoden des Nahkampfs beigebracht. Die Doppelflinte ging los. Die ganze Ladung flog Kisseljew in den Bauch. Zwei Stunden später war Kisseljow tot – der nächste Chirurg war vierzig Kilometer entfernt, und Sergej Michajlowitsch, als Häftling, durfte diese dringende Operation nicht ausführen.
    Der Tag, als die Nachricht vom Tod Kisseljows ins Bergwerk kam, war für die Häftlinge ein Fest. Ich glaube, an diesem Tag wurde sogar der Plan erfüllt.
    1965

Die Liebe des Kapitän Tolly
    Die leichteste Arbeit in der Goldschürfbrigade ist die Arbeit des Stegbauers, des Zimmermanns, der den Steg anstückt, die Bretter vernagelt, über die man die Schubkarren mit dem »Geschiebe« zur Waschtrommel, zum Waschgerät karrt. Hölzerne »Fühler« führen vom zentralen Steg zu jeder Schürfgrube. Von oben, von der Waschtrommel aus, gleicht all das einem gigantischen Tausendfüßler, den man plattgedrückt, getrocknet und auf ewig am Boden der Goldgrube festgenagelt hat.
    Die Arbeit des Stegbauers ist ein »Kant«, leichte Arbeit im Vergleich mit dem Hauer oder dem Mann an der Schubkarre. Der Stegbauer muss weder Schubkarrengriffe noch Schaufel, weder Brecheisen noch Hacke halten. Ein Beil und eine Handvoll Nägel, das ist sein Werkzeug. Gewöhnlich setzt der Brigadier zu dieser notwendigen, obligatorischen, wichtigen Arbeit die Arbeiter abwechselnd ein und lässt jeden einmal ein wenig aufatmen. Natürlich werden sich die Finger, die sich fest um den Schaufelstiel oder Hakkengriff geschlossen, geklammert haben, an einem einzigen Tag leichter Arbeit nicht aufbiegen – dazu braucht es ein Jahr oder länger Pause. Aber ein klein wenig Gerechtigkeit liegt doch in diesem Wechsel von leichter und schwerer Arbeit. Hier gibt es keinen Turnus – der Schwächere hat die beste Chance, wenigstens einen Tag als Stegbauer zu arbeiten. Um Nägel einzuschlagen und Bretter zu behauen, muss man weder Tischler noch Zimmermann sein. Leute mit Hochschulabschluss kamen mit dieser Arbeit wunderbar zurecht.
    In unserer Brigade wurde bei diesem »Kant« nicht abgewechselt. Auf der Stelle des Stegbauers saß in der Brigade immer derselbe – Issaj Rabinowitsch, ehemaliger Leiter der Sowjetischen Versicherungsanstalt. Rabinowitsch war achtundsechzig Jahre alt, aber der alte Mann war kräftig und hoffte, seine zehn Jahre Lagerhaft durchzustehen. Im Lager tötet die Arbeit, und darum ist jeder, der die Lagerarbeit lobt, ein Schurke oder ein Dummkopf. Die Zwanzig-, die Dreißigjährigen starben einer nach dem anderen – dazu hatte man sie auch in diese Spezialzone gebracht –, aber der Stegbauer Rabinowitsch lebte. Er hatte irgendwelche Bekannten in der Lagerleitung, irgendwelche geheimnisvollen Beziehungen, denn Rabinowitsch arbeitete mal eine Zeit in der Wirtschaftsabteilung, mal im Kontor – Issaj Rabinowitsch war klar, dass jeder Tag und jede Stunde, die er nicht in der Grube verbrachte, ihm alten Mann Leben und Rettung verhießen, die Grube dagegen nur Verderben und Tod. Alte Männer im Rentenalter sollte man nicht in die Spezialzone schicken. Rabinowitsch hatten seine Personalien in die Spezialzone, an den Rand des Todes geführt.
    Und hier zeigte Rabinowitsch Eigensinn, er wollte nicht sterben.
    Eines Tages wurden wir zusammen eingesperrt, zum Ersten Mai »isoliert«, wie das jedes Jahr geschah.
    »Ich beobachte Sie schon lange«, sagte Rabinowitsch, »und mir selbst war es überraschend angenehm, zu sehen, dass jemand mich beobachtet, mich erforscht – von denen, die dazu nicht verpflichtet sind.« Ich lächelte Rabinowitsch mit meinem schiefen Lächeln an, das die verletzten Lippen aufriss und das Skorbutzahnfleisch zerriss. »Sie sind wahrscheinlich ein guter Mensch. Sie sprechen niemals schmutzig über Frauen.«
    »Ich habe mich selbst nicht beobachtet,

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