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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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nichts.
    Und Kundusch erzählte eine erstaunliche Geschichte.
    1941 wurde er zum Chef eines befestigten Gebiets ernannt. Die Bauleute errichteten in Ruhe Bunker und Feuernester, bis sich an einem Julimorgen der Nebel in der Bucht verzog und die Garnison auf der Reede direkt vor sich das deutsche Schlachtschiff »Admiral Scheer« sah. Das Schlachtschiff kam heran und schoss die gesamten unvollendeteten Befestigungen aus nächster Nähe zusammen, legte alles in Asche und Schutt. Kundusch bekam zehn Jahre. Die Geschichte war interessant und lehrreich, nur eines war unklar, Kunduschs Artikel – »
asa
«. So einen Artikel gab man nicht für die von der »Admiral Scheer« ans Licht gebrachte Fahrlässigkeit. Als wir uns näher kamen, erfuhr ich, dass Kundusch in der berüchtigten »NKWD-Affäre« verurteilt war, einer der öffentlichen oder geheimen Massenprozesse der Zeit Lawrentij Berijas: die »Leningrader Affäre« , die »NKWD-Affäre«, der Rykow-Prozess, der Bucharin-Prozess , die »Kirow-Affäre« – das eben waren die »Etappen des großen Wegs« . Kundusch war ein hitziger, heftiger Mensch, der seinen Jähzorn auch im Lager nicht immer beherrschen konnte. Er war ein zweifellos anständiger Mensch, besonders, nachdem er die »Praxis« der Haftorte mit eigenen Augen gesehen hatte. Seine Arbeit aus jüngster Vergangenheit, als Abteilungsleiter bei Sakowskij in Leningrad, stellte sich ihm jetzt in ihrer wahren, echten Bedeutung dar. Als ein Mann, der das Interesse an Büchern, an Wissen, an Neuem nicht verloren hatte, der einen Scherz zu schätzen wusste, war Kundusch einer der anziehendsten Teilnehmer des Lehrgangs. Als Feldscher arbeitete er einige Jahre, doch nach seiner Freilassung nahm er eine Stelle in der Versorgung an und wurde Stauer im Hafen von Magadan, bis er nach seiner Rehabilitierung nach Leningrad zurückkehrte.
    Als Freund von Büchern, besonders von Anmerkungen und Kommentaren, der das Kleingedruckte niemals übersprang, verfügte Kundusch über breite, aber verstreute Kenntnisse, er unterhielt sich gern über alle möglichen spekulativen Themen und hatte in allen Fragen seine eigene Meinung. Seine ganze Natur protestierte gegen das Lagerregime, gegen den Zwang. Seinen persönlichen Mut bewies er später, bei einer verwegenen Reise zu einem Treffen mit einer gefangenen jungen Frau, einer Spanierin, der Tochter eines Mitglieds der Madrider Regierung .
    Kundusch war von schwacher Konstitution. Wir alle hatten natürlich Katzen, Hunde, Eichhörnchen und Krähen gegessen und natürlich Pferdekadaver – wenn wir sie auftreiben konnten. Aber seit wir Feldscher waren, taten wir das nicht mehr. Kundusch, der in der Neurologie arbeitete, kochte im Sterilisator eine Katze und aß sie allein. Der Skandal wurde mit Mühe vertuscht. Seiner Majestät dem Hunger war Kundusch im Bergwerk begegnet, und er hatte sich sein Gesicht gut gemerkt.
    Hatte Kundusch alles von sich erzählt? Wer weiß? Und wozu auch will man das wissen? »Wenn du es nicht glaubst, nimms als Märchen.« Im Lager fragt man weder nach der Vergangenheit noch nach der Zukunft.
    Links von mir saß Barateli, ein Georgier, der für ein Dienstvergehen verurteilt war. Russisch sprach er schlecht. Auf dem Lehrgang fand er einen Landsmann, den Dozenten für Pharmakologie, fand er materielle wie moralische Unterstützung. Spät abends ins »Kabäuschen« bei der Krankenhausabteilung zu kommen, wo es trocken und warm ist wie in einem sommerlichen Nadelwald, sich an Tee mit Zucker satt zu trinken oder in Ruhe Perlgraupengrütze mit großen Spritzern Sonnenblumenöl zu essen, die ziehende, entspannende Freude aller auflebenden Muskeln zu spüren – ist das nicht das größte Wunder für einen Menschen aus dem Bergwerk? Und Barateli war im Bergwerk gewesen.
    Kundusch, Barateli und ich saßen in der vierten Bank. Die dritte Bank war kürzer als die anderen – dort ragte der Kachelofen ins Zimmer, und an dieser Bank saßen zwei – Sergejew und Petraschkewitsch. Sergejew war ein »
bytowik
« und während der Haft Versorgungsagent, den Feldscherlehrgang brauchte er nicht unbedingt. Er lernte nachlässig. Bei den ersten praktischen Anatomieübungen im Leichenhaus – Leichen immerhin standen den Lehrgangsteilnehmern zur Verfügung, so viele sie wollten – fiel Sergejew in Ohnmacht und wurde ausgeschlossen.
    Petraschkewitsch wäre nicht in Ohnmacht gefallen. Er kam aus dem Bergwerk, und außerdem hatte er ein »Kürzel« , war verurteilt nach Artikel

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