Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
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« . Dieses Kürzel war im Jahr siebenunddreißig nicht selten: »verurteilt als Familienmitglied«, und weiter nichts. So kamen Kinder, Väter, Mütter, Schwestern und die übrigen Verwandten der Verurteilten zu ihren »Haftzeiten«. Petraschkewitschs Großvater (nicht sein Vater – der Großvater!) war ein bekannter ukrainischer Nationalist. Aus diesem Grund erschoss man 1939 Petraschkewitschs Vater – einen ukrainischen Lehrer. Petraschkewitsch selbst, ein sechzehnjähriger Schüler, erhielt »als Familienmitglied« »zehn Jahre«.
Ich habe immer wieder festgestellt, dass die Haft, besonders im Norden, die Menschen gewissermaßen konserviert – ihr geistiges Wachstum, ihre Fähigkeiten bleiben auf dem Niveau der Zeit ihrer Verhaftung stehen. Diese Anabiose hält bis zur Freilassung an. Einem Menschen, der zwanzig Jahre im Gefängnis oder Lager gesessen hat, fehlt die Erfahrung des gewöhnlichen Lebens, der Schüler bleibt Schüler, der Kluge nur klug, doch kein Weiser.
Petraschkewitsch war vierundzwanzig. Er rannte durch die Klasse, schrie laut, hängte Schabajew oder Silajkin irgendwelche Papierchen an den Rücken, ließ Papierflieger fliegen und lachte. Er antwortete den Lehrern ganz wie in der Schule. Aber er war kein schlechter Kerl und wurde ein guter Feldscher. Die »Politik« scheute er wie das Feuer und hatte Angst, Zeitung zu lesen.
Der Organismus des Jungen war zu schwach für die Kolyma. Nach ein paar Jahren starb Petraschkewitsch an Tuberkulose, ohne aufs Große Land zurückgekehrt zu sein.
Es gab acht Frauen.
Starosta
war Musa Dmitrijewna, früher Partei- oder eher Gewerkschaftsfunktionärin – diese Arbeit hinterlässt ihre unauslöschlichen Spuren auf sämtlichen Gewohnheiten, Manieren und Interessen. Sie war etwa fünfundvierzig und versuchte das Vertrauen der Leitung zu rechtfertigen. Sie trug eine Samtjacke mit Pelz und ein gutes Wollkleid. Während des Krieges wurde für die Kolymabewohner eine gewaltige Menge amerikanischer Wollsachen gespendet. Natürlich, ins Innere der Tajga, bis zu den Bergwerken kamen die Geschenke nicht, und auch an der Küste versuchte sich die lokale Leitung darüber herzumachen – indem sie diese Pullover und Westen den Häftlingen abschwatzte oder einfach einzog. Doch dem einen oder anderen Bewohner Magadans waren diese »Klamotten« geblieben. Auch Musa hatte sie behalten.
In die Angelegenheiten des Lehrgangs mischte sie sich nicht ein und beschränkte ihre Macht allein auf die Gruppe der Frauen. Befreundet war Musa mit der allerjüngsten Teilnehmerin, Nadja Jegorowa, die sie vor den Verführungen der Lagerwelt bewahrte. Nadja fühlte sich von dieser Obhut nicht sehr beschwert, und Musa konnte die stürmische Entwicklung eines Verhältnisses mit dem Lagerkoch nicht verhindern.
»Der Weg zum Herzen einer Frau geht durch ihren Magen.« Silajkin wiederholte diese Worte mit Vergnügen. Vor Nadja und ihrer Nachbarin Musa tauchten Diät-Gerichte auf – allerlei Fleischklößchen, Rumpsteaks und Pfannküchlein. Die doppelte oder sogar dreifache Portion. Die Bestürmung war kurz, Nadja gab sich geschlagen. Die dankbare Musa beschützte Nadja weiter, nicht mehr vor dem Koch, sondern vor der Lagerleitung.
Nadja lernte schlecht. Dafür machte sie ihrem Herzen in der Kulturbrigade Luft. Die Kulturbrigade, der Klub, die Laienkunst ist der einzige Ort im Lager, wo sich Männer und Frauen treffen dürfen. Und obwohl das wachsame Auge der Lageraufsicht dafür sorgt, dass die Beziehungen von Männern und Frauen die Grenze des Erlaubten nicht überschreiten – nach der örtlichen Sitte braucht ein Ehebruch ebenso schlagende Beweise, wie sie der Polizeikommissar in Maupassants »Bel ami« vorbrachte. Die Aufseher beobachten und belauern. Ihre Geduld reicht nicht immer aus, denn der Gefangene denkt – nach Stendhal – mehr an sein Gitter als der Gefängniswärter an seine Schlüssel. Die Überwachung lässt nach.
Auch wenn man in der Kulturbrigade nicht auf Liebe in ihrer ältesten und ewigen Variante zählen darf, dennoch: die Proben erscheinen dem Häftling als eine andere Welt, jener ähnlicher, in der er einst gelebt hat. Diese Erwägung ist nicht unwichtig, auch wenn der Zynismus des Lagers es verbietet, solche Gefühle einzugestehen. Der durchaus reale Nutzen der kleinen Vorteile, die der Kulturarbeiter erhält – eine überraschende Zuteilung von Machorka, von Zucker; die Erlaubnis, sich das Haar wachsen zu lassen –, ist im Lager nicht das Allerletzte.
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