Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
verstießen genauso oft gegen das Gesetz wie die, die nicht nach Strafrechtsartikeln verurteilt waren und weiter ihrer Arbeit nachgingen. Das Jahr siebenunddreißig unterstrich das mit besonderer Stärke – es hatte für die russischen Menschen alle Rechtssicherheiten zerstört. Dem Gefängnis war auf keine Weise zu entkommen, für niemanden zu entkommen.
Die Verbrecher in Freiheit und im Lager sind nur die einen – die Ganoven. Silajkin war klug, er war ein großer Menschenkenner und, wenn auch für Betrug verurteilt, auf seine Weise ein rechtschaffener Mann. Es gibt eine Rechtschaffenheit aus dem Gefühl, aus dem Herzen. Und es gibt eine Rechtschaffenheit aus dem Verstand. Nicht an redlichen Überzeugungen, sondern an redlichen Gewohnheiten fehlte es Silajkin. Er war wahrhaftig, weil er begriffen hatte, dass sich das heute lohnte. Er tat keinen einzigen Schritt gegen die Regeln, weil er begriffen hatte, dass er das nicht tun durfte. An die Menschen glaubte er nicht, und der persönliche Vorteil war für ihn der wichtigste Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Er war geistreich. Im Unterricht in allgemeiner Chirurgie, als der sehr erfahrene Dozent Mejerson den Teilnehmern die Begriffe »Supination« und »Pronation« einfach nicht erklären konnte, stand Silajkin auf, bat um das Wort und sagte mit aufgehaltener Hand: »Suppe bitte«, dann drehte er die Hand nach unten: »Prost Mahlzeit«. Allen, auch Mejerson, ist Silajkins düstere Gedächtniskunst wahrscheinlich ein Leben lang im Gedächtnis geblieben, alle wussten den Witz des Kolymahäftlings zu schätzen.
Die Abschlussprüfungen absolvierte Silajkin vollkommen glatt und arbeitete als Feldscher – im Bergwerk. Er arbeitete sicherlich gut, weil er klug war und »das Leben verstand«. »Das Leben verstehen«, das war nach seiner Meinung die Hauptsache.
Dieselbe Vorbildung hatte sein Banknachbar Logwinow, Iljuscha Logwinow. Wegen Raubes verurteilt, geriet Logwinow, ohne Ganove zu sein, immer mehr in den Sog eines strafrechtlichen Rückfalls. Er sah deutlich die Stärke der Ganoven im Lager – die moralische wie die materielle Stärke. Die Leitung warb um die Gunst der Ganoven, fürchtete die Ganoven. Die Ganoven waren im Lager »zu Hause«. Sie arbeiteten fast gar nicht, erfreuten sich allerlei Privilegien, auch wenn hinter ihrem Rücken heimlich Transportlisten zusammengestellt wurden und von Zeit zu Zeit ein »schwarzer Rabe« samt Begleitposten vorfuhr und die besonders munteren Ganoven einlud – aber so war das Leben, und am neuen Ort ging es den Ganoven nicht schlechter. In den Strafzonen hatten sie ebenfalls das Sagen.
Logwinow stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte während des Kriegs ein Verbrechen begangen. Er sah, dass ihn nur ein Weg erwartet. Der Lagerchef, der Logwinows Akte gelesen hatte, überredete ihn, den Lehrgang mitzumachen. Das Examen bestand er irgendwie, und dann begann ein leidenschaftliches, aussichtsloses Lernen. Die medizinischen Fächer waren für Iljuscha eine zu komplexe Materie. Doch er fand die seelischen Kräfte, nicht aufzugeben, schloss den Lehrgang ab und arbeitete einige Jahre als Oberfeldscher in einer großen internistischen Abteilung. Er wurde entlassen, heiratete und gründete eine Familie. Der Lehrgang hatte ihm den Weg ins Leben eröffnet.
Wir hatten die erste Stunde in allgemeiner Chirurgie. Der Lehrer hatte die Namen von führenden Leuten aus der internationalen Medizin aufgezählt.
»… Und in unserer Zeit machte ein Wissenschaftler eine Entdeckung – eine Wende in der Chirurgie, in der Medizin allgemein …«
Mein Nachbar beugte sich vor und sagte:
»Fleming.«
»Wer hat das gesagt? Stehen Sie auf!«
»Ich.«
»Name?«
»Kundusch.«
»Setzen Sie sich.«
Ich empfand eine starke Kränkung. Ich selbst wusste gar nicht, wer Fleming war. Ich hatte fast zehn Jahre im Gefängnis und im Lager gesessen, seit dem Jahr siebenunddreißig, ohne Zeitungen und ohne Bücher und wusste nichts, außer, dass es einen Krieg gegeben hatte und er vorbei war, dass es irgendein Penicillin gab, dass es irgendein Streptozid gab. Fleming!
»Wer bist du eigentlich?«, fragte ich Kundusch zum ersten Mal. Denn wir waren zu zweit aus der Westlichen Verwaltung hierher zugeteilt worden, uns beide hatte unser gemeinsamer Retter, der Arzt Andrej Maksimowitsch Pantjukow geschickt. Wir hatten gemeinsam gehungert – er weniger, ich mehr – aber wir wussten beide, was das Bergwerk ist. Von einander wussten wir gar
Weitere Kostenlose Bücher