Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Um das Haarescheren entstehen richtige Prügeleien und Krawalle, an denen sich keineswegs die Schauspieler und nicht die Diebe beteiligen …
    Der fünfzigjährige Jakow Sawodnik, ehemaliger Kommissar an der Koltschak-Front (Schulkamerad von Selenskij , dem nach dem Rykow-Prozess erschossenen Sekretär des Moskauer Komitees), verteidigte sich mit dem Feuerhaken gegen die Lagerfriseure und kam der Haare wegen in die Strafmine. Wie das? Ist Samsons Stärke nicht eine Legende? Wo liegt der Grund für diesen Affekt? Selbstverständlich ist die Psyche geschädigt von dem Wunsch, sich wenigstens im Kleinen, im Nichtigen zu behaupten, ein weiteres Zeugnis der großen Verschiebung der Maßstäbe.
    Das Abnorme des Gefängnislebens – das getrennte Leben von Männern und Frauen – ist in der Kulturbrigade irgendwie gemildert. Letztendlich ist auch das eine Täuschung, aber dennoch ist sie teurer als die »gemeinen Wahrheiten«. Jeder, der piepen und singen kann, der zu Hause Gedichte vorgetragen und sich an häuslichen Theatervorstellungen beteiligt hat, der auf der Mandoline geklimpert oder einen Stepptanz getanzt hat – jeder »hat eine Chance«, zur Kulturbrigade zu kommen.
    Nadja Jegorowa sang im Chor. Tanzen konnte sie nicht, auf der Bühne bewegte sie sich linkisch, aber sie kam zu den Proben. Ihr stürmisches Privatleben nahm ihr viel Zeit.
    Jelena Sergejewna Melodse, eine Georgierin, war ebenfalls »Familienmitglied« ihres erschossenen Mannes. Seine Verhaftung hatte sie in höchste Aufregung versetzt – Melodse glaubte naiv, ihr Mann habe sich etwas zu schulden kommen lassen. Sie beruhigte sich, als sie selbst ins Gefängnis kam. Alles klärte sich, wurde logisch und einfach – Leute wie sie gab es zu Zehntausenden.
    Der Unterschied zwischen einem Schurken und einem anständigen Menschen besteht in folgendem: wenn ein Schurke unschuldig ins Gefängnis kommt, glaubt er, er allein sei unschuldig und alle anderen seien Staats- und Volksfeinde, Verbrecher und Halunken. Ein ehrlicher Mensch, der ins Gefängnis kommt, denkt – wenn man ihn hat unschuldig hinter Gitter bringen können, dann konnte dasselbe auch seinem Pritschennachbarn passieren.
    Hier liegen
    Hegel, die Weisheit der Bücher
    Und der Sinn aller Philosophie –
    der Ereignisse von 1937.
    Melodse hatte ihren Seelenfrieden, ihre ruhige, fröhliche Stimmung zurück. In Elgen, der Frauen-Außenstelle in der Tajga, kam Melodse nicht zu den schweren Arbeiten. Und jetzt ist sie auf dem Feldscher-Lehrgang. Praktiziert hat sie nie. Nach ihrer Freilassung – ihre Haftstrafe endete Anfang der fünfziger Jahre – bekam sie, wie alle, die damals freikamen, lebenslängliche »Ortsbindung« an die Kolyma. Sie hat geheiratet.
    Neben Melodse saß die lebensfrohe, lachlustige Galotschka Basarowa, ein junges Mädchen, verurteilt für irgendwelche Verfehlungen während des Kriegs. Galotschka lachte immer, sogar laut, was ihr gar nicht stand – sie hatte riesige, weit auseinanderstehende Zähne. Aber das machte ihr nichts. Der Lehrgang gab ihr den Beruf einer OP-Schwester, nach ihrer Freilassung arbeitete sie einige Jahre im Krankenhaus von Magadan, wo sie sich für ihren ersten Arbeitslohn Kronen aus rostfreiem Stahl machen ließ und gleich hübscher aussah.
    Hinter Basarowa saß Aino – eine Finnin mit weißen Zähnen. Im Lager war sie seit dem Kriegswinter 1939/40 . Russisch hatte sie in der Haft gelernt, und als arbeitsame, auf finnische Art akkurate junge Frau hatte sie die Aufmerksamkeit irgendeines Arztes auf sich gezogen und kam in den Lehrgang. Das Lernen fiel ihr schwer, aber sie lernte und machte den Abschluss als Schwester … Das Leben auf dem Lehrgang gefiel ihr.
    Neben Aino saß eine kleine Frau. Ich erinnere mich weder an ihren Namen noch an ihr Gesicht. Entweder war das eine Aufklärerin oder wirklich ein Schatten von einem Menschen.
    In der nächsten Bank saß Marusja Dmitrijewa, die Freundin von Tschernikow, mit ihrer Gefährtin Tamara Nikiforowa. Beide waren nach zivilen Artikeln verurteilt, beide nicht in der Tajga gewesen, beide lernten gern.
    Neben ihnen saß die schwarzäugige Walja Zukanowa, eine Kubankosakin, Patientin aus dem Krankenhaus. Zu den ersten Unterrichtsstunden kam sie noch im Krankenhauskittel. Sie war in der Tajga gewesen und lernte sehr gut. Die Spuren von Hunger und Krankheit verschwanden nur langsam aus ihrem Gesicht – aber als sie verschwunden waren, zeigte sich, dass Walja eine Schönheit war. Als sie sich erholt hatte, fing

Weitere Kostenlose Bücher