Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Venenerweiterungen«.
Schon vor den Prüfungen ging das beruhigende Gerücht, es würden alle bestehen, unbedingt alle, niemandem würden seine bescheidenen medizinischen Rechte entzogen werden. Darüber freuten sich alle. Das Gerücht erwies sich als zutreffend.
Allmählich festigten und erweiterten sich unsere Kenntnisse. Wir waren schon keine Fremden mehr, wir waren Eingeweihte, wir waren Mitglieder des großen Ärzteordens. Als solche sahen uns die Ärzte wie auch die Kranken an.
Wir waren keine gewöhnlichen Menschen mehr. Wir waren zu Fachleuten geworden.
Ich fühlte mich, zum ersten Mal an der Kolyma, gebraucht: vom Krankenhaus, vom Lager, vom Leben, von mir selbst. Ich fühlte mich als vollberechtigter Mensch, den niemand anschreien, den niemand verhöhnen konnte.
Und obwohl mich viele Chefs in den Karzer setzten für verschiedene Verstöße gegen das Lagerregime, erfundene und tatsächliche – blieb ich auch im Karzer ein Mensch, den das Krankenhaus brauchte. Aus dem Karzer ging ich zurück an meine Arbeit als Feldscher.
Der zerschlagene Ehrgeiz bekam jenen notwendigen Kleister, den Zement, mit dessen Hilfe das in Trümmer Geschlagene zu kitten war.
Der Lehrgang näherte sich dem Ende, und die jungen Männer legten sich Mädchen zu, alles, wie es sich gehört. Doch die Älteren erlaubten der Liebe nicht, sich in ihre Zukunft einzumischen. Die Liebe war ein zu billiger Einsatz im Spiel des Lagers. Über Jahre hatte man uns Enthaltsamkeit gelehrt, und nicht umsonst gelehrt.
Ein heftiger Ehrgeiz wuchs in mir. Die hervorragende Antwort eines anderen in einer beliebigen Unterrichtsstunde nahm ich als persönliche Kränkung, als Beleidigung. Ich musste auf alle Fragen des Dozenten antworten können.
Unser Wissen nahm allmählich zu, und vor allem – wuchs unser Interesse, und wir fragten die Ärzte und fragten – wenn auch naiv, wenn auch dumm. Aber die Ärzte fanden keine einzige unserer Fragen naiv und dumm. Alles wurde beantwortet, und immer fest und entschieden. Die Antworten warfen neue Fragen auf. Medizinische Diskussionen untereinander trauten wir uns noch nicht zu. Das wäre allzu anmaßend gewesen.
Aber … einmal wurde ich gerufen, um eine ausgerenkte Schulter einzurenken. Der Arzt gab eine »Rausch«narkose, und ich arbeitete mit dem Fuß – nach der Hippokratischen Methode. Unter der Sohle knackte etwas weich, und der Schulterknochen war an seinem Platz. Ich war glücklich. Tatjana Michajlowna Iljina, die beim Einrenken der Verrenkung dabei war, sagte:
»Das hat man Ihnen gut beigebracht«, und ich musste ihr zustimmen.
Selbstverständlich war ich kein einziges Mal im Kino oder bei den Aufführungen der Kulturbrigade, die in Magadan, und auch im Krankenhaus, durchaus Niveau hatten und sich durch Phantasie und Geschmack auszeichneten, soweit sie durch die Zensur der Kultur- und Erziehungsabteilung kamen. Leiter der Magadaner Kulturbrigade war damals L.W. Warpachowskij , später Chefregisseur am Moskauer Jermolowa-Theater. Ich hatte keine Zeit, und die sich mir langsam eröffnenden Geheimnisse der Medizin interessierten mich wesentlich mehr.
Die medizinische Terminologie war kein Abrakadabra mehr. Ich ging jetzt ohne die frühere Kraftlosigkeit und ohne Angst an die Lektüre medizinischer Artikel und Bücher.
Ich war kein gewöhnlicher Mensch mehr. Ich musste Erste Hilfe leisten können, den Zustand eines Schwerkranken zumindest in groben Zügen einschätzen können. Ich musste die Gefahr sehen, die einem Menschenleben drohte. Das freute mich und alarmierte mich. Ich war ängstlich – würde ich meine vornehme Pflicht erfüllen?
Ich wusste mit dem Einlaufklistier umzugehen, mit dem Bobrow-Gerät mit dem Skalpell, mit der Spritze …
Ich konnte einem Schwerkranken die Bettwäsche wechseln und konnte das den Pflegern beibringen. Ich konnte den Pflegern erklären, wozu man desinfiziert und saubermacht.
Ich erfuhr tausend Dinge, die ich früher nicht gewusst hatte – Dinge, die für die Menschen notwendig, unentbehrlich, nützlich sind.
Der Lehrgang war zu Ende, die neuen Feldscher wurden nach und nach an ihre Arbeitsstellen geschickt. Hier ist die Liste, der Begleitposten hält in der Hand eine Liste, auf der auch mein Name steht. Doch ich steige als letzter in den Lastwagen. Ich bringe Kranke ans Linke Ufer. Der Laster ist brechend voll, ich setze mich ganz außen mit dem Rükken an die Seitenwand. Beim Zurechtsetzen ist mein Hemd hochgerutscht, und der Wind bläst durch die Ritze
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