Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
der Seitenwand. In den Händen halte ich eine Tüte mit Fläschchen: Baldrian, Maiglöckchentropfen, Jod, Salmiak. An meinen Füßen ein vollgestopfter Sack mit meinen Unterrichtsheften aus dem Feldscherlehrgang.
Viele Jahre lang waren mir diese Hefte die beste Stütze, bis schließlich ein Bär, der sich während meiner Abwesenheit in das Tajga-Ambulatorium verirrt hatte, all meine Aufzeichnungen zerfetzte, nachdem er sämtliche Dosen und Fläschchen zerschlagen hatte.
1960
Der erste Tschekist
Blaue Augen verblassen. In der Kindheit kornblumenfarben, werden sie mit den Jahren zu schmutzig-trüben, blaugrauen Philisteräuglein; den glasigen Fühlhörnern der Untersuchungsführer und Wachleute; oder zu soldatischen »stählernen« Augen – Nuancen gibt es viele. Und sehr selten behalten die Augen die Farbe der Kindheit …
Ein Bündel roter Sonnenstrahlen wurde vom Gitterfenster der Zelle in etwas kleinere Bündel geteilt; irgendwo in der Mitte des Raumes vereinigten sich die Lichtbündel wieder zu einem einzigen, rotgoldenen Strom. In diesem Lichtstrom wimmelten unzählige goldene Staubkörnchen. Die Fliegen, die in das Lichtband gerieten, wurden selbst so golden wie die Sonne. Die Abendsonnenstrahlen trafen auf die mit grauem glänzenden Eisen beschlagene Tür.
Das Schloss klirrte – ein Geräusch, das jeder Häftling in der Gefängniszelle, ob im Schlaf oder wach, zu beliebiger Zeit hört. Es gibt in der Zelle kein Gespräch, das dieses Geräusch übertönen könnte, es gibt in der Zelle keinen Schlaf, der von diesem Geräusch ablenken würde. Niemand kann sich auf irgendetwas so konzentrieren, dass er dieses Geräusch nicht wahrnehmen, es überhören könnte. Jedem erstirbt das Herz, wenn er das Klirren des Schlosses hört, das Anklopfen des Schicksals an die Zellentür, an die Seelen, die Herzen, die Köpfe. Dieses Klirren alarmiert jeden. Und man kann es mit keinem anderen Geräusch verwechseln.
Das Schloss klirrte, die Tür ging auf, und der Sonnenstrahl schoss aus der Zelle. In der offenen Tür war zu sehen, wie der Lichtstrom den Korridor durchschnitt, ins Korridorfenster schlug, durch den Gefängsnishof flog und sich an den Fensterscheiben des anderen Gefängnisblocks brach. All das konnten sämtliche sechzig Bewohner der Zelle in der kurzen Zeit sehen, die die Tür geöffnet blieb. Die Tür fiel tönend ins Schloss, so wie alte Truhen tönen, wenn man den Deckel zuschlägt. Und sofort begriffen alle Häftlinge, die den Ausbruch des Lichtstroms, die Bewegung des Strahls gierig verfolgt hatten, als wäre er ein lebendiges Wesen, ihr Bruder und Kamerad – dass die Sonne wieder mit ihnen eingesperrt war.
Und erst da sahen alle, dass an der Tür, den goldenen Strom der Abendsonnenstrahlen mit der breiten schwarzen Brust auffangend, ein Mann stand und im grellen Licht blinzelte.
Der Mann war schon älter, groß und breitschultrig, eine dichte Mütze heller Haare bedeckte den ganzen Kopf. Erst bei näherem Hinsehen merkte man, dass das Grau dieses gelbe Haar längst gebleicht hatte. Das faltige, einer Reliefkarte ähnelnde Gesicht war von zahlreichen tiefen Blatternarben bedeckt, die an Mondkrater erinnerten.
Der Mann trug eine schwarze Tuch-Feldbluse ohne Gürtel, auf der Brust geöffnet, schwarze Tuch-Reithosen und Stiefel. In den Händen knetete er einen schwarzen, ziemlich zerknitterten Mantel. Die Kleidung hielt schlecht und recht an ihm, sämtliche Knöpfe waren abgetrennt.
»Aleksejew«, sagte er leise und legte die große behaarte Hand auf seine Brust. »Guten Tag …«
Aber sie kamen schon auf ihn zu, ermunterten ihn mit nervösem, abgerissenen Häftlingslachen, klopften ihm auf die Schultern, drückten ihm die Hände. Schon näherte sich der Zellenälteste, die gewählte Leitung, um dem Neuen einen Platz zuzuweisen. »Gawriil Aleksejew«, wiederholte der bärenhafte Mann. Und noch einmal: »Gawriil Timofejewitsch Aleksejew« … Der schwarze Mann trat zur Seite, und der Sonnenstrahl hinderte uns nicht mehr, Aleksejews Augen zu sehen – große, kornblumenblaue Kinderaugen.
Die Zelle erfuhr schnell Einzelheiten aus dem Leben von Aleksejew, dem Chef der Betriebsfeuerwehr einer Fabrik in Naro-Fominsk – daher auch der schwarze Dienstanzug. Ja, Parteimitglied seit Sommer 1917. Ja, Artilleriesoldat, an den Oktoberkämpfen in Moskau beteiligt. Ja, siebenundzwanzig aus der Partei ausgeschlossen. Wieder aufgenommen. Und erneut ausgeschlossen – vor einer Woche.
Häftlinge verhalten sich bei
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