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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Wort eingetragen. Tausende, Zehntausende Wörter, mit von der Zeit verblasstem, hier und da aufgefrischten Kopierstift. Umanskij konnte wahrscheinlich zwanzig Sprachen …
    »Ich kann zwanzig Sprachen«, sagte Umanskij. »Ich konnte sie schon vor der Kolyma. Hervorragend kann ich Hebräisch. Das ist die Wurzel von allem. Hier, in diesem alten Leichenhaus, umgeben von Leichen, habe ich Arabisch, Türkisch und Farsi gelernt … Ich habe eine Tabelle angelegt – eine Aufstellung der Einheitssprache. Verstehen Sie, worum es geht?«
    »Ich glaube ja«, sagte Andrejew. »Mat – Mutter, brat – Bruder.«
    »Genau, aber alles ist viel komplexer und wichtiger. Ich habe gewisse Entdeckungen gemacht. Dieses Wörterbuch wird mein Beitrag zur Wissenschaft sein, die Rechtfertigung meines Lebens. Sind Sie vielleicht Linguist?«
    »Nein, Professor«, sagte Andrejew, und ein stechender Schmerz ging durch sein Herz – er wäre in diesem Moment so gern Linguist gewesen.
    »Schade.« Ein wenig änderte sich die Zeichnung der Falten auf Umanskijs Gesicht, dann nahm es wieder den gewohnten ironischen Ausdruck an. »Schade. Das ist eine interessantere Beschäftigung als die Medizin. Aber die Medizin ist solider, rettender.«
    Umanskij hatte in Brüssel studiert. Nach der Revolution kehrte er in die Heimat zurück, arbeitete als Arzt, praktizierte. Umanskij durchschaute den Charakter des Jahres siebenunddreißig. Er verstand, dass sein langes Leben im Ausland, seine Sprachkenntnisse, sein Freidenkertum ausreichender Anlass für Repressionen waren; der alte Mann versuchte das Schicksal zu überlisten. Umanskij tat einen kühnen Schritt – er trat in die Dienste des Dalstroj, ließ sich als Arzt anheuern für die Kolyma, den Hohen Norden, und fuhr mit einem Vertrag nach Magadan. Er praktizierte und lebte. Leider hatte Umanskij die universale Gültigkeit der Instruktionen nicht bedacht, und die Kolyma rettete ihn nicht, wie ihn auch der Nordpol nicht gerettet hätte. Umanskij wurde verhaftet, kam vor ein Tribunal und bekam zehn Jahre Haft. Seine Tochter sagte sich von dem Volksfeind los und verschwand aus Umanskijs Leben, es blieb nur die zufällig erhaltene Photographie auf dem Schreibtisch des Brüsseler Professors. Die zehn Jahre Haft gingen schon dem Ende zu, die Anrechnung der Arbeitstage erhielt Umanskij korrekt, und diese Anrechnung von Arbeitstagen interessierte Umanskij sehr.
    Es kam ein Tag, an dem Andrejew wieder zum Teetrinken bei Professor Umanskij eingeladen wurde.
    Ein zerkratzter Emaillebecher mit heißem Tee erwartete Andrejew. Neben dem Becher stand das Glas des Gastgebers – aus richtigem Glas, grünlich, trübe und selbst für Andrejews bewanderten Blick unglaublich schmutzig. Umanskij spülte sein Glas niemals. Auch das war eine Entdeckung Umanskijs, sein Beitrag zur Wissenschaft von der Hygiene, ein Prinzip, das Umanskij mit aller Festigkeit, Beharrlichkeit und pädagogischer Unduldsamkeit in die Tat umsetzte.
    »Ein ungespültes Glas ist unter unseren Verhältnissen sauberer und steriler als ein gespültes. Das ist die beste Hygiene, die einzige vielleicht … Haben Sie verstanden?«
    Umanskij schnalzte mit den Fingern.
    »Ein Handtuch ist infektiöser als die Luft. Ergo: sollte man das Glas nicht spülen. Ich habe ein eigenes, ein Altgläubigen -Glas. Auch ausspülen sollte man es nicht – die Luft ist weniger infektiös als das Wasser. Das ABC des Gesundheitswesens und der Hygiene. Haben Sie verstanden?« Umanskij runzelte die Stirn: »Das ist eine Entdeckung nicht nur fürs Leichenhaus.«
    Nach diesem fälligen Teetrinken und der linguistischen Beschwörung flüsterte Umanskij Andrejew ins Ohr, beinahe keuchend:
    »Die Hauptsache ist, Stalin zu überleben. Alle, die Stalin überleben, werden leben. Haben Sie verstanden? Es kann nicht sein, dass die Verwünschungen von Millionen Menschen sich nicht materialisieren. Haben Sie verstanden? Er wird ganz gewiss sterben von diesem allgemeinen Hass. Er wird Krebs bekommen oder irgendetwas! Haben Sie verstanden? Wir werden noch leben.«
    Andrejew schwieg.
    »Ich verstehe und billige Ihre Vorsicht«, sagte Umanskij, schon nicht mehr flüsternd. »Sie denken, ich bin ein Provokateur. Aber ich bin siebzig Jahre alt.«
    Andrejew schwieg.
    »Sie schweigen zu Recht«, sagte Umanskij. »Auch Siebzigjährige sind schon Provokateure gewesen. Alles hat es gegeben …«
    Andrejew schwieg, entzückt von Umanskij, und konnte sich nicht überwinden und sprechen. Dieses instinktive,

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