Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
an:
»Treibt ihn, treibt ihn.«
Und alles begann von vorn.
Das Krankenhaus, das ersehnte Krankenhaus lag nur vier Kilometer von der Siedlung entfernt. Doch um dorthin zu kommen, brauchte man eine Einweisung, ein Papier. Der Feldscher wusste, dass er Herr über Krists Leben und Tod war. Das wusste auch Krist.
Von der Baracke, in der Krist schlief – das, was man im Lager »wohnen« nannte –, bis zur Wache waren es nur hundert Schritt. Die Vitamin-Siedlung war eine der verlassensten – umso größer, dicker und drohender wirkte der Feldscher und umso nichtiger Krist.
Auf diesem Weg von hundert Schritt traf Krist – er konnte sich nicht erinnern: wen? Und der Mann war schon vorbeigegangen, im Nebel verschwunden. Sein geschwächtes, hungerndes Gedächtnis konnte Krist nicht weiterhelfen. Und trotzdem … Krist überlegte Tag und Nacht, bezwang Hunger, Frost und den Schmerz in den Händen und Füßen: wer? Wer war ihm auf dem Pfad begegnet? Oder wurde Krist verrückt? Krist kannte diesen Mann, der im Nebel verschwand, kannte ihn nicht von Moskau her, von der Freiheit. Nein, viel bedeutender, viel näher. Und Krist erinnerte sich. Dieser Mann war vor zwei Jahren Lagerchef, aber nicht im Vitamin-, sondern im Goldlager, in der Goldmine, wo Krist der echten Kolyma Auge in Auge begegnet war. Das war der Chef, der Lager-»Blutsauger«, wie die Ganoven sagen. Ein freier Chef, und zu Krists Zeiten stand er vor Gericht. Nach der Verhandlung war der Chef irgendwo verschwunden, es hieß, man habe ihn erschossen – und hier war er, begegnete Krist auf einem Pfad im Vitamin-Außenlager. Krist fand den ehemaligen Chef im Lagerkontor. Er hatte irgendeinen unbekannten Posten, zweifellos im Büro, der ehemalige Chef hatte natürlich Artikel achtundfünfzig, aber ohne Kürzel, und er durfte in der Schreibstube arbeiten.
Natürlich, Krist konnte den Chef kennen und erkennen. Der Chef aber konnte sich unmöglich an Krist erinnern. Und trotzdem … Krist trat an die Absperrung, hinter der auf der ganzen Welt die Kontoristen sitzen …
»Was, schnappst du mich«, sagte der ehemalige Lagerchef auf Ganovenart und drehte sein Gesicht zu Krist.
»Ja. Ich bin ja aus der Mine«, sagte Krist.
»Freut mich, einen Landsmann zu sehen.« Der ehemalige Chef verstand Krist gut und sagte: »Komm am Abend zu mir. Ich bring dir einen Hering raus.«
Weder Vor- noch Nachname wussten sie voneinander. Aber jenes Nichtige, Kurzzeitige, das sie einmal zufällig verbunden hat, wurde plötzlich zu einer Kraft, die das menschliche Leben verändern kann. Und der Chef selbst, der den Hering nicht an seine hungrigen Vitaminlager-Kameraden gab, sondern an Krist, der mit ihm beim Gold war, erinnerte sich und wusste, dass das Gold und die Vitamin-Außenstelle verschiedene Dinge waren. Keiner der beiden sprach darüber. Beide verstanden es, beide spürten es, Krist – sein Untertage-Recht, und der ehemaliger Chef – seine Pflicht.
Jeden Abend brachte der ehemalige Chef Krist einen Hering. Mit jedem Abend wurde der Hering größer. Der Lagerkoch wunderte sich nicht über die plötzliche Grille des Kontoristen, der seine Heringsportion früher niemals haben wollte. Krist aß diesen Hering nach seiner Bergwerksgewohnheit – mitsamt Haut, Kopf und Gräten. Manchmal brachte der ehemalige Chef auch ein nicht aufgegessenes, angebissenes Stück Brot. Krist dachte, dass diesen leckeren Hering weiter zu essen gefährlich war: womöglich nimmt ihn das Krankenhaus nicht auf – der Körper verliert das Aussehen, das er für die Hospitalisierung braucht. Die Haut ist nicht mehr trocken genug, das Kreuz nicht mehr eckig genug. Krist erzählte dem ehemaligen Chef, dass man ihn, Krist, ins Krankenhaus eingewiesen habe, und der Feldscher ihn unter Nutzung seiner Macht hier halte, und …
»Ja, der Feldscher hier ist eine richtige Kanaille. Ich bin mehr als ein Jahr hier – noch niemand hier hat den Knochenklempner gelobt. Aber wir führen ihn an. Hier wird jeden Tag ins Krankenhaus eingewiesen. Und die Listen schreibe ich.« Der ehemalige Chef lächelte.
Am Abend rief man Krist auf die Wache. Dort standen schon zwei Häftlinge – der eine hielt einen kleinen Sperrholzkoffer in der Hand.
»Es gibt keinen Begleitposten, der euch bringen könnte«, der Diensthabende trat auf die Vortreppe hinaus. »Wir bringen euch morgen.«
Für Krist war das der Tod – morgen käme alles ans Licht. Der Feldscher würde Krist in irgendeine Hölle hetzen. Krist wusste nicht, wie diese
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