Küss mich Engel
zu und beließ es dabei. Letzte Nacht war mehr als etwas Besonderes gewesen, und beide wussten es. Sie hatte es in der beinahe verzweifelten Leidenschaft ihrer Vereinigung gefühlt und auch in der Art, wie sie einander danach noch festhielten. Als sie einander in die Augen blickten, hatte keiner mehr etwas versteckt, nichts mehr zurückgehalten.
Heute morgen hatte sie erwartet, dass er ihr wieder auf die alte Tour kommen würde, mürrisch und abweisend, mit einem Wort unmöglich, aber zu ihrer Überraschung war er statt dessen zärtlich und lustig. Es war, als hätte er den Kampf aufgegeben. Mit jedem Pochen ihres romantischen Herzens wollte sie glauben, dass er sich in sie verliebt hatte, aber sie wusste, dass es nicht so einfach sein würde. Im Moment konnte sie jedoch dankbar dafür sein, dass er seine Maske abgelegt hatte.
Regen begann in fetten, amöbenförmigen Tropfen auf das staubige Fenster der Windschutzscheibe zu klatschen. Es war ein kühler, trüber Vormittag, und laut Wettervorhersage würde es nur noch schlimmer werden. Er warf ihr einen Seitenblick zu, und sie hatte das Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte.
»Ich kann dir einfach nicht widerstehen«, sagte er ruhig. »Das weißt du, nicht wahr? Und ich bin‘s leid, so zu tun, als ob ich‘s könnte.« Seine Züge umwölkten sich noch mehr. »Aber ich liebe dich nicht, Daisy, und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut, denn wenn ich jemanden lieben könnte auf dieser Welt, dann wärst du es.«
Sie zwang sich, trotz des Kloßes in ihrem Hals zu sprechen. »Die Sache mit der Verkrüppelung?«
»Das ist nicht lustig.«
»Entschuldige. Es ist bloß, dass es so unglaublich -« dumm ist. Es war dumm, aber sie biss sich auf die Zunge. Solange er glaubte, nicht lieben zu können, trieb sie ihn bloß in die Defensive, wenn sie versuchte, es ihm auszureden. Außer es stimmte. Dieser unglückliche Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Was war, wenn er recht hatte und so durch seine gewalttätige Kindheit geschädigt worden war, dass er nie wieder jemanden lieben konnte? Oder wenn er bloß sie nicht lieben konnte?
Der Regen prasselte nun auf das Dach der Fahrerkabine. Sie blickte auf ihre Hände, die auf ihrem Schoß lagen, und auf ihren Ehering. »Sag mir, wie es wäre. Wenn du mich lieben würdest.«
»Wenn ich dich lieben würde?«
»Ja.«
»Es ist bloß Zeitverschwendung, über etwas zu reden, was nie sein kann.«
»Weißt du, was ich glaube? Ich glaub, es kann nicht viel besser sein, als es jetzt ist. Jetzt ist wirklich schön.«
»Aber es wird nicht andauern. Wenn unsere sechs Monate vorbei sind, ist auch diese Ehe vorbei. Ich könnte nicht mehr mit mir leben, wenn ich zusehen müsste, wie du allmählich bitter wirst, weil ich dir nicht geben kann, was du verdienst. Ich kann dir keine Liebe geben. Ich will dir keine Kinder schenken. Das alles brauchst du, Daisy. Du bist die Art von Frau, und ohne das gehst du ein.«
Seine Worte ließen kleine Schmerzblasen in ihrem Innern platzen, aber sie würde ihn nicht für seine Ehrlichkeit bestrafen, indem sie ihn jetzt angriff, bloß weil es ihr wehtat. Sie wusste aber auch, dass sie mehr im Moment nicht ertragen konnte, also wechselte sie das Thema. »Weißt du, was ich wirklich will?«
»Ich nehm an, ein paar Wochen auf einer luxuriösen Schönheitsfarm und ‘ne frische Maniküre.«
»Nein, ich will Erzieherin werden.«
»Echt?«
»Doof, nicht wahr? Ich müsste dazu erst aufs College gehen, und dafür bin ich schon zu alt. Ich wär‘ über dreißig, bis ich den Abschluss hätte.«
»Wie alt wärst du, wenn du nicht aufs College gehst?«
»Wie bitte?«
»Die Jahre vergehen so oder so, ob du nun aufs College gehst oder nicht.«
»Willst du mir ernsthaft sagen, ich soll‘s tun?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«
»Weil ich schon oft genug in meinem Leben versagt hab und wirklich nicht noch mehr ertragen kann. Ich weiß, dass ich nicht dumm bin, aber meine bisherige Schulbildung ist bestenfalls lückenhaft, und außerdem hab ich überhaupt keine Disziplin. Ich kann mir nicht vorstellen, in einer Klasse mit einem Haufen glanzäugiger Achtzehnjähriger zu sitzen, die alle eine ganz normale Schulbildung hinter sich haben.«
»Vielleicht ist es Zeit, dass du aufhörst, dich so klein zu machen. Vergiss nicht, du bist eine Lady, die Tiger zähmen kann.« Er schenkte ihr ein rätselhaftes Lächeln, bei dem sie sich unwillkürlich fragte, welchen Tiger er eigentlich meinte
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