Küss mich Engel
bereit zu sein, irgend etwas preiszugeben.
Sie merkte, dass Heather irgendwann während des Telefonats verschwunden war. Mit einem Seufzer sperrte sie die Geldschublade zu, knipste das Licht aus und verließ den Trailer.
Die Arbeiter hatten das Menageriezelt bereits abgebaut, und wieder einmal ertappte sie sich dabei, wie sie an den Tiger dachte. Widerwillig, beinahe als könne sie nicht anders, schlenderte sie dorthin, wo das Zelt gestanden hatte.
Der Käfig ruhte auf einem knapp einen Meter hohen Sockel. Das harte Flutlicht warf unheimliche Schatten über den Käfig und das Tier darinnen. Mit wild klopfendem Herzen näherte sie sich vorsichtig und blieb schließlich stehen. Sinjun erhob sich und wandte sich ihr zu.
Sie erstarrte, als sich diese unheimlichen goldenen Raubtieraugen wieder auf sie richteten. Sein Blick war starr und hypnotisch; er blinzelte nicht. Ein Schaudern überlief sie, und sie fühlte, wie sie langsam in diesen goldenen Tigeraugen versank.
Schicksal.
Das Wort dröhnte durch ihren Kopf, beinahe als hätte sie es nicht selbst gedacht, sondern als käme es von dem Tiger.
Schicksal.
Sie merkte erst, dass sie näher gekommen war, als sie den moschusartigen Geruch des Tigers roch, ein Geruch, der eigentlich unangenehm hätte sein sollen, es aber nicht war, Sie ging bis fast einen Meter an den Käfig heran, bevor sie regungslos stehenblieb. Die Sekunden tickten vorbei, wurden zu Minuten. Sie verlor jegliches Zeitgefühl.
Schicksal. Das Wort dröhnte und echote durch ihren Kopf.
Der Tiger war ein riesiges Männchen, mit enormen Tatzen und einem weißen Dreieck unter der Kehle. Sie begann zu zittern, als er die Ohren verdrehte, so dass sie die ovalen weißen Flecken auf deren Rückseite sehen konnte. Irgendwie wusste sie, dass es keine freundliche Geste war. Seine Schnurrhaare sträubten sich. Er fletschte die Zähne. Der Schweiß tröpfelte ihr zwischen den Brüsten herunter, als er ein zischendes Brüllen ausstieß, wie das eines Monsters aus einem Horrorfilm.
Sie konnte den Blick nicht senken, obwohl sie spürte, dass es das war, was er wollte. Sein starrer Blick war herausfordernd auf sie gerichtet: Sie sollte als erste wegsehen. Das wollte sie auch - sie hatte nicht den Wunsch, einem Tiger zu trotzen -, war aber wie gelähmt.
Die Gitterstäbe schienen sich in Luft aufzulösen, so dass sie auf einmal schutzlos vor ihm stand. Ein Schlag seiner riesigen Tatze mit den scharfen Krallen würde genügen, um ihr die Kehle aufzureißen. Dennoch konnte sie sich nicht rühren. Sie starrte ihn an und hatte das Gefühl, als hätte sich ein Fenster zu ihrer Seele geöffnet.
Die Zeit verrann. Minuten. Stunden. Jahre.
Mit Augen, die nicht länger die ihren zu sein schienen, sah sie all ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten, die Ängste, mit denen sie sich selbst in einen Käfig gesperrt hatte. Sie sah sich durch ein Leben voller Privilegien gleiten, mitgerissen von willensstärkeren Menschen, immer voller Angst vor Konfrontationen, immer bemüht, es allen recht zu machen, allen, außer sich selbst. Die Augen des Tigers zeigten ihr all das, was sie vor sich selbst zu verbergen versucht hatte.
Und dann blinzelte er.
Der Tiger.
Nicht sie.
Mit einer Art ungläubigem Erstaunen sah sie, wie die weißen Flecken auf seinen Ohren verschwanden. Er streckte seinen großen Leib wieder auf dem Käfigboden aus und betrachtete sie ernst und vernichtend. Dann fällte er sein Urteil über sie.
Du bist schwach und feige.
Sie sah die Wahrheit in den Augen des Tigers, und das Siegesgefühl, das sie soeben noch empfunden hatte, weil sie ihren Anstarr-Wettbewerb gewonnen hatte, verpuffte, und sie merkte erst, wie weich und zittrig ihre Knie waren. Sie sank auf die unkrautbewachsene Wiese, wo sie die Knie anzog, die Arme darum schlang und ihn schweigend anstarrte, nicht länger so ängstlich, nur noch ausgelaugt.
Sie hörte die Musiker die Melodie für die letzte Nummer spielen und war sich entfernt der Stimmen der Arbeiter gewahr, die über den Platz gingen, und der Budenbesitzer, die für den Tag dichtmachten. Sie hatte in der letzten Nacht so wenig geschlafen, dass sie schläfrig wurde. Ihre Lider senkten sich ein wenig, aber nicht ganz. Sie legte die Wange auf ein Knie und blickte den Tiger aus halbgeschlossenen Augen an. Er starrte gelangweilt zurück.
Sie waren ganz allein auf der Welt, zwei verlorene Seelen. Sie fühlte jedes Pochen seines Herzens. Es kam ihr vor, als würde sein Atem ihre Lungen füllen,
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