Küss mich Engel
zu rächen.«
Er sah Verletzlichkeit in ihren Zügen aufblitzen, etwas, das nur sehr selten geschah, doch war sie ebenso schnell wieder verschwunden. »Es tut mir leid, ein wenig Luft aus deinem aufgeblasenen Ego lassen zu müssen, aber mir scheint, du hast eine übertriebene Vorstellung von der Rolle, die du in meinem Leben spielst.«
Sie ließ ihn stehen, und er blickte ihr nach. Er wusste, dass sie log.
Beide konnten auf eine lange, komplizierte gemeinsame Vergangenheit zurückblicken. Angefangen hatte es in dem Sommer, als er sechzehn Jahre alt war, als er seine Schulferien beim Wanderzirkus Quest verbrachte und Owens Ansichten über Männlichkeit lauschte. Die Flying Cardozas gehörten in jenem Sommer ebenfalls zur Truppe, und Alex verliebte sich auf der Stelle in die einundzwanzigjährige Königin der Manege.
Nachts schlief er mit sehnsüchtigen Gedanken an ihre Schönheit, ihre Grazie und ihre Brüste ein. Die Mädchen, die er bis dahin gekannt hatte, kamen ihm im Vergleich zu der sinnlich-üppigen, unnahbaren Sheba Cardoza wie Kinder vor. Neben seiner unleugbaren Lust empfand er auch eine Art Seelenverwandtschaft mit ihr. Auch er war ein geradezu besessener Perfektionist und wollte überall der Beste sein. Sheba, so erkannte er, besaß einen ebenso starken, ebenso unbeugsamen Willen wie er.
Sie besaß darüber hinaus jedoch auch eine selbstsüchtige Ader, die von ihrem Vater genährt wurde und die Alex nicht mit ihr teilte. Sam Cardoza erzog Sheba im Glauben, besser zu sein als alle anderen. Doch sie besaß darüber hinaus auch eine weiche, mütterliche Seite und liebte es, obwohl sie noch jung war, die anderen Mitglieder der Truppe zu bemuttern, sie zu tadeln, wenn sie sich danebenbenahmen, ihre Mägen mit ihren selbstgekochten Spaghettigerichten zu füllen und sie in Liebesdingen zu beraten.
Schon mit einundzwanzig liebte sie es, die große Matriarchin zu spielen, und es dauerte nicht lange, bevor sie auch Alex in ihr Grüppchen mit aufnahm. Er tat ihr leid, dieser elternlose Sechzehnjährige, der sie mit heißen, sehnsüchtigen Blicken verfolgte. Sie sorgte dafür, dass Alex immer ausreichend und gut aß, und lag Owen beständig in den Ohren, dass er vor den ausfallenden, streitlüsternen Arbeitern geschützt werden müsse, ohne dabei die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass er schon viel zu lange beim Zirkus lebte, um jetzt noch beschützt werden zu müssen.
Alex wollte mehr von ihr, als bemuttert zu werden, doch ein gutaussehender mexikanischer Trapezkünstler namens Carlos Mendez stand ihm dabei im Weg. Wie Sheba stammte auch Carlos aus einer alten Zirkusfamilie und war von ihrem Vater als neuer Fänger engagiert worden. Aber Sam Cardoza ging es um mehr als nur ihre Nummer. Carlos Mendez‘ Ahnengalerie war zwar nicht so beeindruckend wie die der Cardozas, in Sams Augen jedoch akzeptabel genug, um aus ihm einen geeigneten Zeuger für die nächste Generation von Cardozas zu machen, und Sheba tat ihrem Vater den Gefallen und verliebte sich in Carlos.
Alex war zerfressen vor Eifersucht. Seine Ahnenreihe war weit beeindruckender als die der Mendez, aber Sheba sah in ihm nur einen aufgeschossenen Teenager, der gut mit Pferden und der Peitsche umgehen konnte. Sie erzählte ihm von ihren Plänen, den feschen Mexikaner zu heiraten, und meinte im Vertrauen, dass Sam Carlos bereits die Einwilligung abgerungen habe, ihre Kinder mit dem Namen der Cardozas aufzuziehen.
Als der Sommer zu Ende ging und Alex sich bereit machte, wieder zur Schule zurückzukehren, erhielten die Cardozas die Nachricht, dass sie in der nächsten Saison bei Ringling auftreten könnten. Carlos stolzierte daraufhin wie ein Pfau durch die Gegend, doch er besaß mehr Arroganz als Verstand, denn an dem Tag, an dem Alex gehen sollte, tauchte Sheba unerwartet in Carlos‘ Trailer auf und erwischte ihn dabei, wie er gerade ein Showgirl auszog.
Diese Nacht würde Alex nie vergessen. Er kam aus dem big top und fand Sheba vor, die auf ihn gewartet hatte. Ihre Augen waren trocken, und sie war beinahe unheimlich ruhig.
»Komm.«
Es wäre ihm nie eingefallen, sich zu weigern. Sie zog ihn von den anderen fort und führte ihn an den Rand des Zeltplatzes, wo sie zwischen zwei dicht zusammenstehende Budenwagen schlüpften. Sein Herz begann wie wild zu klopfen angesichts ihrer Heimlichtuerei und der finsteren Entschlossenheit, die ebenso verboten auf ihn wirkte wie der Moschusgeruch ihres Parfüms.
Sie blickte ihm tief in die Augen. Ohne dass ein
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