Küss mich Engel
und allmählich wich ihre Furcht vollkommen. Statt dessen breitete sich ein Gefühl tiefen Friedens in ihr aus. Ihre Seele verschmolz mit der seinen - sie wurden eins und in diesem Moment wäre sie mit Freuden sein Futter, seine Nahrung gewesen, denn es gab keine Barrieren mehr zwischen ihnen.
Und dann - es ging schneller, als sie sich das je hätte vorstellen können - zerbarst ihr innerer Friede, und sie wurde von einer derartigen Schmerzwelle erfasst, dass sie laut aufstöhnte. Irgendwo in den fernsten Winkeln ihres Verstands begriff sie, dass der Schmerz von dem Tiger ausging, nicht von ihr, doch das machte ihn auch nicht erträglicher.
Lieber Gott. Sie hielt sich den Bauch und krümmte sich. Was geschah bloß mit ihr? Lieber Gott. Mach, dass es aufhört! Es war unerträglich.
Sie sackte nach vorn, drückte die Wange an die Erde. Sie wusste, dass sie sterben würde.
So plötzlich, wie der Schmerz gekommen war, verschwand er wieder. Sie rang nach Luft. Zitternd richtete sie sich auf die Knie auf.
Die Augen des Tigers glommen vor Wut.
Jetzt weißt du, wie sich ein Gefangener fühlt.
Alex war fuchsteufelswild. Er stapfte über den Zirkusplatz, Sheba Quest an seiner Seite und eine Peitsche aufgerollt in der Faust. Es war Samstagabend, Zahltag für die Arbeiter, und ein paar von ihnen waren bereits betrunken, also trug er die Peitsche als Abschreckung bei sich. Im Moment jedoch waren es nicht die Arbeiter, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten.
»Mich bestiehlt niemand!« verkündete Sheba, »und auch Daisy wird nicht damit durchkommen, bloß weil sie deine Frau ist.« Der leise, abgehackte Ton der Zirkusbesitzerin unterstrich ihren Zorn. Ihr rotes Haar flatterte wie eine Racheflamme, und ihre Augen schössen Blitze.
Das Versprechen, das Alex Owen an seinem Totenbett gegeben hatte, führte zu einem dauernden Machtkampf zwischen ihm und seiner Witwe. Sheba Quest war seine Arbeitgeberin, und sie war entschlossen, ihn so weit zu treiben, wie sie konnte, wohingegen Alex ebenso entschlossen war, Owens Wünsche zu achten. Das Ergebnis war, bisher zumindest, eine Reihe von Kompromissen, die eigentlich keinen von beiden so recht zufriedenstellte, so dass ein offenes Klingenkreuzen eigentlich unvermeidlich gewesen war.
»Es gibt keinen Beweis dafür, dass Daisy das Geld genommen hat.«
Noch während er sprach, ärgerte er sich über sich selbst, dass er überhaupt den Versuch machte, sie zu verteidigen. Es gab keinen anderen Verdächtigen. Er hätte ihr zwar durchaus zugetraut, dass sie sich an seinem Geld vergriff - das schien sie ohnehin als ihr rechtmäßiges Eigentum zu betrachten -, aber er hätte wirklich nicht geglaubt, dass sie in die Kasse des Zirkus greifen könnte. Was bloß zeigte, wie sein Sexualtrieb seinen gesunden Menschenverstand trübte.
»Mach dich nicht lächerlich«, schnauzte sie. »Ich hab die Geldschublade überprüft, nachdem sie zum Dienst kam. Mach dir nichts vor, Alex. Deine Frau stiehlt.«
»Ich habe nicht die Absicht, sie zu verurteilen, bevor ich nicht mit ihr gesprochen habe«, erwiderte er dickköpfig.
»Das Geld ist weg, oder etwa nicht? Und Daisy hatte die Verantwortung. Wenn sie‘s nicht gestohlen hat, warum ist sie dann verschwunden?«
»Ich werd sie finden und fragen.«
»Ich will, dass sie verhaftet wird, Alex. Sie hat mich bestohlen, und ich werde die Polizei rufen, sobald du sie gefunden hast.«
Er blieb abrupt stehen. »Wir rufen nie die Polizei. Das weißt du ebensogut wie alle anderen. Wenn sie wirklich schuldig ist, werd ich mich um die Sache kümmern, so wie ich mich um jeden kümmere, der hier Mist baut.«
»Die letzte Person, um die du dich ›gekümmert‹ hast, war dieser Fahrer, der den Arbeitern Drogen verkauft hat. War nicht mehr viel von ihm übrig, als du mit ihm fertig warst. Ist es das, was dir für Daisy vorschwebt?«
»Lass gut sein.«
»Du bist ein richtiger Mistkerl, weißt du das? Du wirst deine dumme kleine Schlampe diesmal nicht beschützen können. Ich will jeden einzelnen Cent zurückhaben, und dann will ich, dass sie bestraft wird. Wenn die Strafe nicht zu meiner Zufriedenheit ausfällt, sorge ich dafür, dass sich die Behörden der Sache annehmen.«
»Ich hab gesagt, ich kümmere mich drum.«
»Dann sieh zu, dass du‘s auch tust.«
Sheba war die kompromissloseste Frau, die er kannte, und nun blickte er ihr direkt in die Augen. »Daisy hat nichts mit dem zu tun, was zwischen uns war. Ich will nicht, dass du versuchst, dich über sie an mir
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