Küss mich Engel
sich so vor allen Leuten von Daisy küssen lassen? Sie wäre am liebsten gestorben, als sie diesen Kuss sah. Sie hasste Daisy, hasste sie, und das Beste an den letzten beiden Wochen war gewesen, Daisy dreckverschmiert und stinkend vom Mistschaufeln zu sehen. Sie verdiente es, Mist zu schaufeln.
Wieder und wieder versuchte Heather ihre Schuldgefühle wegen Daisy zu beschwichtigen, indem sie sich sagte, dass Daisy es nicht anders verdiente. Sie gehörte nicht zu ihnen. Sie passte nicht zu ihnen. Und sie hätte Alex nie heiraten dürfen. Alex gehörte ihr, Heather.
Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, vor sechs Wochen, als sie hier ankam. Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte er immer Zeit, mit ihr zu reden. Es machte ihm nichts aus, wenn sie ihm nachrannte, und vor Daisys Auftauchen hatte er sie sogar manchmal auf Besorgungsgänge mitgenommen. Einmal, in Jacksonville, war er mit ihr in diese Kunstgalerie gegangen und hatte ihr alle möglichen Sachen über die Bilder erklärt. Er hatte sie außerdem dazu ermuntert, mit ihm über ihre Mutter zu reden, und hatte ihr auch erklärt, warum ihr Dad seiner Meinung nach so stur war.
Doch sosehr sie ihn auch liebte, sie wusste, dass sie in seinen Augen immer noch ein Kind war. In letzter Zeit musste sie immer öfter daran denken, dass die Dinge vielleicht anders gelaufen wären, dass er Daisy vielleicht nicht geheiratet hätte, wenn er sie als Frau gesehen hätte.
Wieder stiegen Schuldgefühle in ihr hoch. Sie hatte nicht vorgehabt, das Geld zu stehlen und in Daisys Koffer zu verstecken, aber sie war im roten Waggon gewesen, und Daisy hatte dieses Telefonat geführt, die Geldschublade war offen gewesen, und da war es eben einfach passiert.
Was sie getan hatte, war nicht richtig, aber sie sagte sich immer wieder, dass es so falsch nun auch nicht gewesen war. Alex wollte Daisy nicht - Sheba sagte das auch. Daisy machte ihn bloß unglücklich, und das konnte er aufgrund ihrer, Heathers, Tat nun um so schneller herausfinden.
Aber dieser Kuss, den sie heute morgen beobachtet hatte, verriet ihr deutlich, dass Daisy ihn nicht so einfach gehenlassen würde. Heather konnte noch immer nicht fassen, wie sie sich ihm so an den Hals hatte werfen können. Alex brauchte sie nicht! Er brauchte Daisy nicht, wenn er sie haben konnte.
Aber wie sollte er wissen, was sie für ihn empfand, wenn sie es ihm nie gesagt hatte? Sie stieß ihre Unterlagen beiseite und sprang auf. Sie konnte es nicht länger aushalten. Sie musste ihm zeigen, dass sie kein Kind mehr war. Er musste begreifen, dass er Daisy nicht nötig hatte.
Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, eilte sie aus dem Wohnwagen und zum roten Waggon.
Alex blickte vom Schreibtisch auf, als Heather hereinschlenderte. Sie hatte die Daumen in die Taschen ihrer Karoshorts geschoben, die nur noch am Saum unter dem voluminösen weißen T-Shirt hervorguckten. Sie wirkte blass und unglücklich, wie eine kleine Fee mit gestutzten Flügelchen. Sie ging ihm sofort ans Herz. Sie hatte es nicht leicht, aber sie kämpfte sich durch, und das mochte er an ihr.
»Was ist los, Schätzchen?«
Sie sagte zuerst einmal nichts. Statt dessen begann sie, ziellos im Wohnwagen umherzuschlendern, hier die Armlehne der Couch berührend, dort einen Griff am Aktenschrank. Er sah einen kleinen blassorgangefarbenen Fleck auf ihrem Wangenknochen, wo sie versucht hatte, einen Pickel zu überschminken, und ein Gefühl von Zärtlichkeit wallte in ihm auf. Eines nicht so fernen Tages würde sie eine richtige Schönheit sein.
»Probleme?«
Ihr Kopf fuhr hoch. »Ich doch nicht.«
»Das ist gut.«
Er sah, wie sie schluckte. »Ich hab bloß gedacht, du solltest wissen ...« Sie zog erneut den Kopf ein und fing an, an einem abgebissenen Fingernagel herumzuzupfen.
»Was?«
»Ich hab gesehen, was Daisy heut mit dir gemacht hat«, stieß sie hastig hervor, »und ich wollte bloß, dass du weißt, dass ich weiß, dass du nichts dafür konntest, du weißt schon.«
»Was hat Daisy mit mir gemacht?«
»Na, wie sie ... du weißt schon.«
»Ich fürchte nein.«
»Du weißt schon.« Sie beäugte einen bestimmten Fleck auf dem Teppich.
»Wie sie dich abgeknutscht hat, vor allen Leuten. Wie sie dich blamiert hat.«
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er mit dem Knutschen angefangen. Es gefiel ihm nicht, dass jeder im Zirkus ihren Bauch anstarrte und die Monate zählte. Außerdem gefiel ihm nicht, wie die Leute sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten,
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