Kuess mich - es ist Karneval
überwunden hatte und oft sehr verstört wirkte.”
“Ganz egal, aus welchem Grund mir Conrado die Aktien vermacht hat, du bist versessen darauf, mir die Schuld an seinem Unglück zu geben”, stellte Ellen fest.
Kühl sah er sie mit seinen braunen Augen an. “Ja. Aber nur weil du so versessen darauf bist, mir zu verschweigen, was meinen Vater so unglücklich gemacht hat.”
Ellen schwieg beharrlich.
“Wovor schämst du dich?” fragte Roberto. “Du warst damals erst sechzehn Jahre alt. Später hast du bestimmt bereut, die Beziehung zerstört zu haben.”
“Nein, das habe ich nicht”, erwiderte Ellen.
“Nein?”
“Nein. Ich hatte damals gute Gründe, und das gilt auch heute noch.” .
Roberto sprang auf und stieß seinen Stuhl zurück. “Ich werde noch etwas joggen”, erklärte er unvermittelt. Einen Augenblick später fiel die Wohnungstür laut zu.
Ellen stütze die Ellbogen auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. Sie begriff nicht, daß Roberto, nachdem er sie in der vergangenen Nacht so zärtlich und voller Verlangen geliebt hatte, jetzt so abweisend war. Warum mußte sie für die Vergangenheit ihrer Mutter zahlen? Sie unterdrückte ein Schluchzen.
Ellens Gedanken schweiften zurück zu Roberto und der letzten Nacht. Das Zusammensein mit ihm hatte ihr gezeigt, wie wundervoll gegenseitige Hingabe sein konnte und daß sie die Macht besaß, ungezügelte Leidenschaft zu wecken. Das würde sie niemals vergessen. Sie schluckte trocken. Vielleicht wäre es wirklich am einfachsten, Rio doch schon am Donnerstag zu verlassen.
Ellen hob das Kinn. Nein, sie wollte einen Artikel über die Stadt schreiben und Fotos dazu machen, also würde sie bleiben.
Wenn ihre Gegenwart Roberto verwirrte und sie selbst nervös wurde, konnte sie es nicht ändern.
6. KAPITEL
In auffallenden rot-goldenen Kostümen marschierten die Mitglieder der Band im Rhythmus der Jazzmusik vorbei. Ellen riß ihre Kamera hoch, und als der Klang der Trompeten die Luft erfüllte, nahm sie ein Mädchen mit dem Goldstaub auf den Schultern und Goldfedern auf dem Kopf ins Visier. Wieder entdeckte sie ein faszinierendes Motiv, doch zog sie es vor, nur zuzusehen und den Anblick zu genießen, als noch mehr Fotos zu machen.
Ellen nahm ihre Kamera herunter und lächelte. Die Parade war größer, lauter und aufsehenerregender, als Ellen es sich je vorgestellt hatte.
Am nächsten Abend saß sie mit Roberto auf der Tribüne des Sambadromo Stadions, um sich die Vorführungen der Samba-Schulen anzusehen.
“Sie wählen Themen aus dem brasilianischen Kulturkreis”, erklärte Roberto, “auch wenn sie sie beliebig interpretieren, wie du bestimmt schon bemerkt hast.”
“Das nennt man künstlerische Freiheit”, sagte Ellen amüsiert.
Jetzt wurden die Zuschauer gerade mit Szenen aus den Wäldern des Amazonas unterhalten. Auf riesengroßen Festwagen waren Palmen aus Pappmache aufgebaut.
Dazwischen sah man Schlangen, die richtiges Feuer spuckten.
Doch außer Fröhlichkeit und Witz strahlte diese Parade auch knisternde Erotik aus, denn auf jedem Festwagen saßen ausnehmend schöne Ehrenjungfrauen mit entblößtem Busen.
Roberto hatte erzählt, daß viele der Teilnehmer aus den Favelas, den Elendsviertel auf den Hügeln hinter Rio, kämen.
Daran erinnerte sich Ellen, als sie den Karnevalszug fotografierte. Diese Menschen gehörten zu den Ärmsten der Erde, und dies war die einzige Zeit im Jahr, in der sie sich verkleiden und so tun konnten, als wären sie reich. Auch wenn sie in kurzer Zeit wieder zu ihrem armseligen Leben zurückkehren mußten, war ihnen davon nichts anzumerken, und der Karneval tobte ausgelassen und voller Leben weiter.
Ellen warf Roberto einen kurzen Blick von der Seite zu. Ganz gleich, wie faszinierend die Parade war, ein Teil Ellens blieb stets ihm zugewandt. Wenn er sie zufällig mit dem Arm oder Schenkel berührte, fühlte sie sich erregt und verwirrt. Ihr entging allerdings auch nicht seine Unnahbarkeit. Sein Verhalten war höflich, aber sehr förmlich. Zwar war es unwahrscheinlich, daß er sie wieder angriff, seine steife Zurückhaltung jedoch machte deutlich, daß er die Tage bis zu ihrer Abfahrt zählte.
Ich erwarte ja nicht, daß er mir sagt, ich sei das Beste, das ihm je begegnet sei, dachte Ellen unglücklich. Alles; was ich wollte, war Freundschaft, aber selbst das scheint unmöglich zu sein.
Ihre schwermütige Stimmung wurde von einigen Tänzern, die voller Schwung und Vitalität direkt vor ihrer
Weitere Kostenlose Bücher