Küss mich wie damals
beherrschen. „Ich habe dich siebzehn Jahre lang nicht zu Gesicht bekommen. Plötzlich tauchst du auf und erwartest, dass ich dir in die Arme falle.“
„Oh, du bist mir in die Arme gefallen, meine süße, meine unvergleichliche Fanny.“
Marcus’ Stimme hatte einen triumphierenden Unterton enthalten. Das, was er gesagt hatte, war jedoch so wahr, dass Frances sich nicht einmal den Anschein geben mochte, gekränkt zu sein. Außerdem wollte sie jetzt keinen Wortwechsel mit ihm haben, weil sie ahnte, dass sie nicht die Oberhand behalten würde. „Sie haben mich überrumpelt.“
„Ach, tatsächlich? Mein Eindruck war eher, dass auch du dich erinnert hast.“ Marcus überlegte, ob er ihr sagen solle, dass er sie immer noch liebte und all die vergeudeten Jahre gutmachen wolle. Da er ihr jedoch bereits zu verstehen gegeben hatte, er dächte nicht über eine zweite Ehe nach, würde sie die gleichen Schlussfolgerungen wie vor siebzehn Jahren ziehen und denken, er wolle sie zu seiner Mätresse machen. Also war es besser, ihr seine wahren Gefühle zu verschweigen.
„Ein Kuss! Was ist ein Kuss?“ Sie war wütend. „Alles und nichts! Was vor siebzehn Jahren zwischen uns geschah, war ein angenehmes Intermezzo, auf das wir als Erwachsene mit einer gewissen Belustigung zurückblicken können. Es wieder aufleben zu lassen kann nur zu Enttäuschungen führen, nicht wahr?“
„Ja, natürlich“, antwortete Marcus, nahm den Spazierstock vom gegenüberliegenden Sitz und pochte an die Sichtscheibe, um den Kutscher an seine Pflicht zu erinnern. „Ein angenehmes Intermezzo, nicht mehr. Ich bitte für meine Anmaßung um Entschuldigung.“
Frances nahm den Hut an sich, zog das Cape über die Schultern und strich ihr Kleid glatt. Einen Moment später wurde die Wagentür geöffnet, und der Kutscher ließ den Tritt herunter. „Gute Nacht, Euer Gnaden“, sagte Frances und stieg aus.
Sie hörte nicht, ob er etwas erwiderte, weil sie rasch und hoch erhobenen Hauptes zur Haustür ging, die ihr sogleich geöffnet wurde. Geistesabwesend schritt sie am Butler vorbei und stieg die Treppe hinauf. Noch immer in Gedanken, warf sie im Schlafzimmer den Hut aufs Bett und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Dann ging sie zum Fenster und blickte über die sich dunkel vom sternenübersäten Himmel abzeichnenden Dächer. Aus der Ferne konnte sie das zunehmend leiser werdende Rumpeln einer Karosse hören und den Hufschlag von Pferden.
Marcus war fortgefahren. Sie musste so tun, als sei es nie zu diesem Kuss gekommen. Genau so hatte sie sich verhalten, als sie jünger und voller Liebeskummer gewesen war. Das war der einzige Weg, wie sie sich dazu bringen konnte, normal weiterzuleben. Sie hatte sich geschworen, dass kein Mann ihr je wieder so wehtun würde und sie sich Marcus gegenüber, falls sie ihn noch einmal sah, gleichgültig verhalten würde. Doch was hatte sie getan, kaum dass er wieder in ihr Leben getreten war? Sie war wieder auf seinen Charme hereingefallen. Sie war eine Närrin!
Vielleicht würde auch er so tun, als sei es nie zu diesem Kuss gekommen. Sie fragte sich, ob sie ihm jemals wie jemandem, der, wie er gewünscht hatte, mit ihm befreundet war, begegnen konnte, ihn weiterhin mit „Euer Gnaden“ ansprechen und mit ihm über Kunst, Waisen und Elternschaft sprechen konnte. Er hatte eine seltsame Art, seine Freundschaft zu bekunden. Früher hatte er schon einmal angedeutet, Frances solle seine Mätresse werden. Vielleicht wollte er wieder ein angenehmes Intermezzo erleben. Sie hatte diese Worte gewählt, nicht er. Allerdings hatte er ihr sehr schnell zugestimmt, ganz so, als habe sie ihm das erwartete Stichwort gegeben.
Sie musste ihn von diesem Ansinnen abbringen, wusste indes nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Vielleicht konnte sie sich verleugnen lassen, wenn er zu Besuch kam. Aber das würde bedeuten, dass Lady Lavinia keinen Unterricht mehr bekam und Marcus den Auftrag für das Porträt zurückzog. Was würden Frances’ Freunde dazu sagen? Der ganze ton würde im Nu wissen, dass sie sich mit dem Duke of Loscoe überworfen hatte und ihn nicht mehr ins Haus ließ. Und es würde zu endlosen Mutmaßungen über den Grund für ihren Streit kommen.
Die Zofe kam ins Zimmer und erkundigte sich: „Hatten Sie einen angenehmen Abend, Mylady?“
Sie atmete tief durch und lächelte. „Ja, Rose.“
Das war keine Lüge, wie Frances sich vorhielt, während das Mädchen ihr beim Auskleiden half. Sie bereute den Kuss von
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