Küss mich wie damals
ganzem Herzen, hatte ihn jedoch unvorstellbar genossen. In zehn Ehejahren hatte George sie nie so geküsst. Sobald sie zur Nacht hergerichtet war, ging sie trotz ihres Dilemmas lächelnd zu Bett. Sie war leichtfertig. Sie war liederlich. Sie war verliebt.
Marcus fuhr nicht nach Hause, sondern zu White’s, wo er sich mit Major Greenaway traf. Hätte er gewusst, dass die Countess of Corringham und seine Tochter Mutmaßungen über seine nächtlichen Ausflüge anstellten und zu falschen Schlussfolgerungen gelangten, wäre er sehr amüsiert gewesen. Nacht für Nacht hatte er mit Donald die Straßen nach Mrs. Poole und deren Kind abgesucht und Leute ausgehorcht, die in Elendsquartieren lebten. Er war in schmutzigen Wirtshäusern gewesen, hatte jedoch bis jetzt noch keine Spur der Verschwundenen gefunden. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch in der Stadt sein mochte und wo er nach ihr forschen müsse, wenn sie nicht mehr in London war.
Major Greenaway berichtete ihm, er habe von einem Konstabler erfahren, Mr. Poole halte sich in der Stadt auf. Die Gendarmen würden den Mann im Auge behalten, weil sie glaubten, er sei ein Aufwiegler und an den Weberunruhen beteiligt. Über seine Frau und das Kind hatte Donald nichts Neues gehört, aber an diesem Abend fände in einer Schenke in Seven Dials ein Treffen der Aufrührer statt, an dem er teilnehmen wolle. Er würde Mr. Poole, falls er ihn dort sah, nach der Versammlung verfolgen, um herauszubekommen, ob dieser seine Frau bereits gefunden hatte.
„Und was ist, wenn sie bei ihm sein sollte?“, erkundigte er sich. „Haben Sie vor, sie von ihm zu trennen?“
„Großer Gott, nein!“, antwortete Marcus. „Mich interessiert nur das Kind.“
„Wollen Sie es ihr mit Gewalt wegnehmen?“
„Nein, aber ich bin überzeugt, dass Poole es nicht behalten will, selbst wenn er seiner Frau den Fehltritt verziehen haben sollte. Bestimmt ist er bereit, es gegen Geld abzugeben. Und ich bezweifele, dass sie etwas dagegen einzuwenden hat. Ich werde mit Ihnen kommen, Major, muss mich jedoch vorher umkleiden, um in diesem Lokal in Seven Dials nicht sofort aufzufallen.“
Und daher sah Lavinia, nachdem sie den Vater nach Hause kommen gehört hatte, wie er es eine halbe Stunde später wieder in schäbiger Kleidung verließ. Fast hätte sie ihn nicht erkannt, weil er sich so gekrümmt hielt und hinkte. Verwirrt ging sie zu Bett und hörte ihn nicht heimkehren.
Am nächsten Morgen saß er jedoch am Frühstückstisch und äußerte lächelnd: „Lady Frances hat sich geirrt. Sie hat nämlich behauptet, du würdest vor mir beim Frühstück sein.“
„Sie konnte nicht ahnen, dass du überhaupt nicht zu Bett gehen würdest. Ich habe dich nach Hause kommen und wieder weggehen gehört.“
„Oh, ich war nicht lange fort. Ich habe mich nur kurz mit einem Freund getroffen.“
„Reiten wir nachher aus?“
„Nein, wir müssen zu Lady Frances und haben daher nicht die Zeit für einen Ausritt. Vielleicht unternehmen wir morgen einen.“
„Ich bin nicht in der Stimmung zum Malen und will auch nicht Modell sitzen.“
„Wir fahren trotzdem zu Lady Frances, weil wir von ihr erwartet werden.“
„Du bringst mich nur zu ihr, damit du dich nicht mit mir beschäftigen musst!“
„Unsinn!“ Marcus war hundemüde und nicht gelaunt, sich mit seiner Tochter zu streiten. „Du weißt, ich würde mehr Zeit mit dir verbringen, wäre mir das möglich. Meine wichtigen Geschäfte hindern mich jedoch daran.“
„Geschäfte, die dich nötigen, die ganze Nacht außer Haus zu sein.“
„Das reicht jetzt, Vinny. Ich merke, dass ich dir zu viele Freiheiten gelassen habe. Kinder, ganz besonders Töchter, sollten nicht infrage stellen, was ihre Eltern tun. Das gehört sich nicht und ist ein Zeichen mangelnder Erziehung.“
„Und wie Mama zu sagen pflegte, kommt es in erster Linie auf eine gute Erziehung an.“
„Sei still, wenn ich mit dir rede, Vinny.“ Marcus überlegte, bei welcher Gelegenheit seine verstorbene Gattin mit der Tochter über Erziehung geredet haben mochte. Er wollte Vinny jedoch nicht fragen, da er sie dadurch wahrscheinlich nur ermutigt hätte, noch freimütiger zu sein. „Die nächsten Jahre werden sehr wichtig für dich werden. Ich will, dass du tadellos erzogen bist, und das bedeutet, dass du gepflegte Manieren hast, deine Zunge im Zaum zu halten verstehst und hervorragend tanzen, musizieren und malen kannst.“ Marcus beendete sein Frühstück und stand auf. „So, beeil dich und
Weitere Kostenlose Bücher