Küss mich wie damals
ballte die Hände zu Fäusten. Wie war es möglich, dass sie so eigenwillig geworden war? Wer hatte ihr beigebracht, Widerworte zu geben? „Lavinia“, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen, „das reicht! Ich habe meine Entscheidung getroffen.“
Plötzlich hörte Lavinia zu weinen auf und wischte sich die Augen aus. „Im Herzen, falls du eins hast, weißt du, dass Lady Frances überhaupt keine Schuld trifft, und auch nicht Corringham. Wenn jemandem ein Vorwurf zu machen ist, dann Lord Willoughbys Sohn!“
„Benedict? Wie kommst du darauf?“
„Das hat Duncan mir erzählt. Wir sprechen über alles. Das haben wir schon getan, als wir noch klein waren. Die ganze Sache war Benedicts Einfall. Er wollte eine Nacht außerhalb des Internats verbringen und hat Duncan überredet, dem Schulleiter zu sagen, du wünschtest, dass er einige Tage bei dir ist und einen Freund mitbringen darf.“
„Das hat der Schulleiter mir berichtet. Rede weiter!“
„Benedict hat immer Geld, mehr, als du Duncan bewilligst. Er wollte in eine Spielhölle gehen, bekam jedoch keinen Zutritt. Dann haben beide Lady Frances’ Stiefsohn getroffen und ihn gebeten, für sie zu bürgen. Er war dagegen, doch Benedict wusste, dass Corringham seiner Mutter versprochen hatte, nie mehr zu spielen, und deshalb hat er damit gedroht, ihn zu verraten, wenn er nicht dafür sorge, dass er und Duncan in die Spielhölle gelassen würden. Corringham war sehr beunruhigt darüber, seiner Mutter erneut Kummer zu machen, und hat daher zugestimmt. Er wollte Duncan jedoch keineswegs in Schwierigkeiten bringen.“
„Oh, der junge Corringham zieht dich ins Vertrauen?“
„Er war hier, als du mit Duncan unterwegs warst.“
„Und du hast ihn empfangen?“ Marcus glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. „Wusstest du nicht, dass sich das nicht gehört?“
„Miss Hastings war zugegen. Natürlich habe ich nicht allein mit ihm gesprochen.“
„Was hat er sonst noch erzählt?“
„Er wollte sicher sein, dass Duncan ihn nicht verrät. Ich habe ihm versichert, mein Bruder werde schweigen, doch du hast auf andere Weise von dieser Geschichte Kenntnis bekommen.“
Marcus lächelte grimmig. Der junge Mann hatte Pech gehabt, weil einige Aufsichtspersonen im Internat, die dafür verantwortlich waren, dass die Zöglinge kein Unheil anstellten und sich zweifelhaften Orten fernhielten, ihn mit den Jungen gesehen hatten. Marcus war auch in der Spielhölle gewesen und hatte so das volle Ausmaß der Schulden seines Sohnes erfahren. Daraufhin war Duncan nach Hause gebracht worden, damit Marcus ihn bestrafte. Sein Sohn konnte von Glück reden, dass er nicht der Schule verwiesen worden war. „Zweifellos muss Corringham jetzt seiner Stiefmutter Rede und Antwort stehen.“
„Ja, aber kannst du nicht zugeben, Papa, dass du Lady Frances falsch beurteilt hast, und mir erlauben, sie weiterhin zu besuchen?“
Er wusste, dass er ungerecht gewesen war. Und er bestrafte sich ebenso wie Duncan und seine Tochter. „Ich werde bestimmt mit Lady Frances reden, doch was die Fortsetzung deines Unterrichts betrifft, so glaube ich nicht …“
„Warum denn nicht, Papa?“
„Das war mein letztes Wort in dieser Sache, Lavinia! Geh in dein Zimmer und beschäftige dich mit etwas Nützlichem.“
Schmollend verließ seine Tochter den Raum. Marcus ging einige Minuten auf und ab, ließ sich dann umkleiden und befahl, sein Pferd zu satteln. Erst wollte er ausreiten, um einen klaren Kopf zu bekommen, und sich dann zu Lady Frances begeben. Es fiel ihm nicht leicht, sich zu entschuldigen, wie sie zu Recht bemerkt hatte, doch es tat ihm wirklich leid, so bei ihr hereingeplatzt zu sein und ihr Vorwürfe gemacht zu haben …Was hatte er gesagt? Er erinnerte sich nicht mehr genau, weil er so wütend gewesen war.
Im Allgemeinen besaß er eine gute Selbstbeherrschung. Er war als vernünftiger, gerechter Mensch bekannt, der erst zuhörte, ehe er sich eine Meinung bildete. Betroffen überlegte er, warum er sich plötzlich so anders verhalten hatte. Die innere Veränderung war nach der Ankunft in London und dem Wiedersehen mit Frances eingetreten, als er erfahren hatte, dass sie seinetwegen nicht im Kummer versunken, sondern in all den Jahren gut ohne ihn ausgekommen war. Und nachdem er mitbekommen hatte, welch gute Stiefmutter sie war und wie hilflos und unfähig er sich seinen Kindern gegenüber fühlte, war alles nur noch schlimmer geworden.
Tief in Gedanken ging er nach draußen, wo der
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