Küsse, die "Verzeih mir" sagen
einen blutüberströmten männlichen Körper, der auf dem Rücken lag und die Arme seitlich ausgestreckt hatte. Zwischen Brustkorb und Bauchnabel verlief eine große Wunde. Der Anblick ließ sie würgen. Das Gesicht war blutverschmiert; sie erkannte Robert nur an der Form seines Kopfes.
Auf dem zweiten Bild lag er bäuchlings auf einer Trage. Auch sein Rücken war übel zugerichtet. Sie schrie erstickt auf und rannte dann ins Badezimmer, um sich zu übergeben. Als sie ein paar Minuten später wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte, zitterte sie am ganzen Körper. Einen Moment lang verwirrte sie der seltsame Ton, der in der Luft hing, bis ihr klar wurde, dass er aus dem Telefonhörer kam. Die Gegenseite hatte aufgelegt.
Auf wackligen Beinen ging sie zum Bett, setzte sich und drückte die Wahlwiederholungstaste.
„Radinger und Byland.“
„Hallo, hier ist noch mal Annie Bower.“
„Oh, gut, dass Sie zurückrufen, die Verbindung wurde irgendwie unterbrochen. Mr Radinger ist immer noch im Gespräch. Möchten Sie weiter warten?“
„Nein danke. Ich habe es mir anders überlegt. Bitte sagen Sie ihm nichts. Wenn ich ihn doch noch brauche, melde ich mich und lasse mir einen Termin geben.“
Annie legte auf, doch sie konnte den Blick einfach nicht von den schrecklichen Fotos wenden. Eins zeigte sein von Splittern zerschnittenes Gesicht in Großaufnahme und traf sie besonders, weil er so ein gut aussehender Mann war. Zum Glück schienen die Schnittwunden nicht allzu tief gewesen zu sein, denn soweit sie bei seinem Überraschungsbesuch vorher gesehen hatte, waren keine Narben zurückgeblieben. Trotzdem machte ihr gerade dieses Bild besonders deutlich, wie ernst die Bedrohung durch Al Qaida tatsächlich war.
Schließlich schob sie die Bilder unter ihr Kissen, weil sie den Anblick nicht mehr ertrug. Was sollte sie jetzt nur tun? Erschöpft ließ sie sich aufs Bett sinken und brach in Tränen aus. Der Schrecken nahm einfach kein Ende.
Als ihr Handy klingelte, ging sie zunächst nicht ran, weil sie ihrer Stimme nicht traute. Doch der Anrufer gab einfach nicht auf. Mühsam setzte sie sich auf und schaute aufs Display. Natürlich wurde keine Nummer angezeigt. Sie wusste trotzdem genau, wer es war.
Womöglich stand Robert immer noch vor der Tür und wartete, bis Roberta aus der Schule kam. Was, wenn er sie einfach ansprach und Annie so zur Konfrontation zwang? Heute würde ihre Mutter die Kinder abholen und auf dem Weg nach Hause etwas zum Abendessen einkaufen.
Panik stieg in ihr auf. Sowohl Roberta als auch ihre Mutter würden Robert sofort erkennen. Annie hatte aus Afghanistan viele Fotos von ihm mitgebracht. Die schönsten Bilder waren gerahmt und standen in Robertas Zimmer und auf ihrem eigenen Nachttisch. Die anderen hatte sie in ein Album geklebt, das sich Roberta oft anschaute und stolz ihren Freundinnen zeigte.
Robert hatte sie in eine Zwangslage gebracht. Was sie auch tat, es würde böse für sie enden. Aber wenn sie sich weiterhin weigerte, mit ihm zu sprechen, konnte sie Roberta nicht ausreichend vor ihm schützen.
Stöhnend griff sie nach dem Handy und nahm den Anruf an. „Was willst du?“
„Mit dir reden.“
„Es gibt nichts zu sagen. Ich hätte gut ohne die Fotos leben können, und es tut mir leid, dass du so Schreckliches durchmachen musstest. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, für Roberta und mich bist du tot, und so soll es auch bleiben.“
„Dein Wunsch kann sich schneller erfüllen, als du denkst.“
Sie zuckte zusammen. „Ach, du willst also wieder verschwinden? Warum dann das ganze Theater?“
„Ich gehe nirgendwohin, aber da ist noch etwas, was du wissen musst. Du hast dich vorher so aufgeregt, dass ich es dir lieber nicht erzählt habe.“
„Was?“
„Lass mich kurz ausholen. Die CIA hat mir nie erzählt, dass du schwanger warst oder ein Kind hast, wahrscheinlich, weil sie wussten, dass mich dann nichts und niemand von dir ferngehalten hätte. Ich habe es erst vor ein paar Tagen erfahren. Ich wünsche mir nichts mehr, als meine Tochter kennenzulernen und mein Leben mit euch zu teilen, aber Al Qaida ist immer noch hinter mir her, und wenn sie mich finden, bringen sie mich um. Wenn du deshalb Roberta lieber nichts von mir erzählen willst, kann ich das verstehen und würde euch dann in Ruhe lassen.“
Annie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte nicht mehr klar denken.
„Ich fühle mich im Park ziemlich sicher, und seit gestern weiß auch der Chefranger
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