Küsse, die "Verzeih mir" sagen
selbst auf und schlich in Robertas Zimmer. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen, doch Annie wusste, dass sie wach war. „Willst du heute gar nicht aufstehen?“, fragte sie leise.
„Nein“, kam die gedämpfte Antwort.
Annie setzte sich auf die Bettkante und zog mit der freien Hand die Decke zurück, damit sie Roberta sehen konnte.
„Gestern sind wir zum ersten Mal ins Bett gegangen, ohne uns einen Gutenachtkuss zu geben.“
Als sie keine Antwort bekam, beugte sie sich über ihre Tochter und küsste sie auf die Stirn. „Deine Großeltern kommen nachher und machen mit uns einen Ausflug in den Yosemite Park. Wir müssen uns also schnell anziehen und frühstücken, damit wir fertig sind, wenn sie kommen.“
Endlich kam Bewegung in Roberta. Sie setzte sich auf. Ihre Augen waren verquollen, aber jetzt strahlte sie wieder. „Weiß Daddy, dass wir kommen?“
„Bis jetzt noch nicht. Ich weiß nicht mal, ob er Dienst hat. Wir rufen ihn an, wenn wir da sind. Aber wenn ich den Job im Park annehme, sollten wir uns wenigstens vorher mal das Haus anschauen, in dem wir wohnen werden.“
„Ehrlich?“, fragte Roberta hoffnungsvoll.
Als Annie nickte, warf sich Roberta in ihre Arme. Beide fingen an zu weinen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Nur Mut, sagte sich Annie. Du wirst eine neue Rolle spielen müssen. Aber wenn du es gut machst, wirst du nach einer Weile die Vergangenheit vielleicht tatsächlich vergessen können.
Am nächsten Morgen brachte Beth Chase, der noch immer in Marks Büro saß, Kaffee und ein Croissant. Chase hing schon wieder am Telefon. Der Besitzer des verlassenen Wagens war gefunden worden – ein Tourist, dem das Benzin ausgegangen und der per Anhalter zurück in die nächste Stadt gefahren war.
„Wie sieht’s mit dem Waldbrand in Sektor C aus?“, fragte Chase seinen Rangerkollegen am anderen Ende der Leitung.
„Ganz gut. Zum Glück ist es fast windstill. Ich halte dich auf dem Laufenden.“
Chase verabschiedete sich und griff nach dem Croissant. Zehn vor zehn – in vier Stunden war seine freiwillig übernommene Schicht zu Ende. Eigentlich hätte er müde sein müssen, doch die ganze Sache mit Annie hatte ihn viel zu sehr aufgewühlt. An Entspannung war nicht zu denken.
Als er gerade den letzten Bissen genommen hatte, klingelte das Telefon schon wieder. „Ranger Jarvis“, meldete er sich.
„Hier ist Jeff. Gerade ist die berühmteste Frau der Parkgeschichte durchs Tor gefahren. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.“
Chase runzelte die Stirn. „Wer soll das sein?“
„Margaret Bower.“
Chase ließ den Plastikbecher fallen, den er zum Glück gerade ausgetrunken hatte.
„Ihre Tochter und ihre Eltern sind auch dabei, sie kann ja wegen ihres eingegipsten Arms nicht Autofahren. Sie hat gesagt, sie machen einen Tagesausflug. Für jemanden, der vor knapp einer Woche einen Hubschrauberabsturz überlebt hat, sieht sie klasse aus, wenn ich das sagen darf.“
Chase bückte sich nach dem Becher, hob ihn auf und warf ihn in Richtung Papierkorb, verfehlte sein Ziel aber. Sagen konnte er nichts, denn widerstreitende Gefühle schnürten ihm die Kehle zu.
„Jedenfalls dachte ich, du solltest Bescheid wissen, falls sie im Besucherzentrum vorbeikommen. Der Chef will sie bestimmt kennenlernen.“
„Er hat heute frei“, brachte Chase schließlich heraus. Dann legte er auf, um sich nicht noch mehr geistlose Bemerkungen über Annie anhören zu müssen.
Jetzt bereute er es, Marks Schicht übernommen zu haben, denn die ging bis zwei. Vermutlich würden Annie und Roberta jeden Moment auftauchen, und er konnte seinen Posten nicht verlassen.
Aber was machte Annie überhaupt hier? Sicher hatte sie ihre Meinung nicht vollkommen geändert. Wahrscheinlich sollte Roberta nur mal den Park kennenlernen, bevor sie sich über Besuchsrechte unterhielten.
Es fiel ihm schwer, sie nicht sofort anzurufen, aber er beherrschte sich. Er musste warten, bis sie sich meldete, das hatte er ihr versprochen.
Leider gab es im Moment keine Ablenkung, obwohl dieses Wochenende eines der letzten besucherstarken des Jahres war. Also versuchte er, die Zeitung zu lesen, die Beth zusammen mit dem Frühstück gebracht hatte. Doch er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Um halb zwölf schickte er den aktuellen Wetterbericht an alle Rangerstationen im Park. Kurz darauf rief ihn Cindy vom Informationsschalter im Besucherzentrum an.
„Was gibt’s, Cindy?“, fragte er.
„Ich habe hier eine
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