Kuesse - heiß wie die Sonne Siziliens
zu engagieren. Sie brauchte seine Hilfe. Dringend. Niedergeschlagen ging Isabel in ihr Zimmer.
Sie hasste das Gefühl, hilfsbedürftig zu sein. Abhängig von einem anderen Menschen. Es erinnerte sie an das leere Gefühl in der Magengrube, das sie ständig quälte, als sie damals von einem Haus ins nächste zog. Von einer Familie zur anderen. Kein Ort, den sie als Zuhause hätte bezeichnen können. Niemanden, der für sie da war. Keiner, der sich um sie sorgte.
In Kalifornien hatte sie geglaubt, dass die Dinge hier anders liegen würden. Ihr eigenes Haus, ihr eigener Betrieb. Ihre eigene Verantwortung. Kein Vermieter, kein Chef. Stattdessen war sie nun noch verletzlicher als jemals zuvor.
Sie war zu unruhig, um in ihrem Hotelzimmer herumzusitzen, die Kassetten Italienisch für Anfänger zu hören und die Ratgeber für den Weinanbau zu lesen. Die ganzen Kapitel über Hefebakterien und Tankfermentation machten sie noch unsicherer und nervös, was die Zukunft anging.
Schnell duschte sie, zog sich um, steckte das Wörterbuch in einen Leinenbeutel, hängte sich ihre Kamera um und machte sich auf in den Ort, um sich dort ein wenig umzuschauen. In Kalifornien hingen in den Dörfern im Weinbaugebiet die Tagelöhner immer an einer Ecke herum und warteten auf Arbeit. Warum sollte es hier anders sein? Die Straße führte vom Hotel aus etwa eine halbe Meile bergabwärts und war gesäumt von Zitronen- und Mandelbäumen. Die Sonne stand schon tief, die Luft war wunderbar kühl.
Villarmosa war eine kleine Stadt. Rund um den Platz in der Ortsmitte fand man alles, was man fürs tägliche Leben brauchte. Sie schlenderte zu der mittelalterlichen Kirche, ging am Postamt vorbei, an einer Autowerkstatt und an einer Handvoll Geschäfte. Unter ihnen auch ein Gemüsehändler, vor dessen Tür Körbe mit verlockendem Obst standen. Nirgendwo im Städtchen entdeckte sie Menschen, die aussahen, als hielten sie Ausschau nach Arbeit.
Das erste Geschäft, das sie betrat, war ein hell erleuchteter Lebensmittelladen, dessen Auslagen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Obwohl sie üppig zu Mittag gegessen hatte, konnte sie diesem Angebot unmöglich widerstehen.
Die Luft duftete intensiv nach den verschiedenen Köstlichkeiten – geräuchertes Fleisch und aromatische Käsesorten. Als sie näher an die Theke trat, spürte sie die Blicke der anderen Kunden. Natürlich verriet ihre Kamera sie als Touristin, aber auch ohne Kamera hätte jeder gewusst, wer sie war: die Erbin aus Amerika. Sie lächelte zaghaft.
Als sie an der Reihe war, deutete sie auf den Schinken, die Salami und zwei Sorten Käse, danach noch auf eine Schachtel mit kleinen schwarzen Oliven. Sie sprach sogar einige sorgfältig ausgesuchte italienische Worte. Sie war stolz auf sich selbst: Ihr erster Ausflug in die Stadt war geglückt.
Zurück auf der schmalen Straße ging sie hinter einer schwarz gekleideten alten Dame her. Die Frau trug ein volles Einkaufsnetz. Plötzlich riss das Netz, und ein Dutzend Pfirsiche und ein Glas Honig rollten über den Gehsteig.
Die Frau stieß einen schrillen Schrei aus.
Isabel hob die leicht eingedrückten Pfirsiche und das Honigglas, das heil geblieben war, von den glatten Steinplatten auf, legte alles in ihren Beutel und gab diesen der alten Frau, die sie dankbar anlächelte. „Herzlichen Dank. Sie sind sehr freundlich“, sagte sie auf Italienisch.“
„ Prego “, antwortete Isabel.
Noch ehe sie etwas hinzufügen konnte, winkte die Frau den Fahrer eines schweren schwarzen Wagens heran. Der Chauffeur stieg aus und half der alten Dame auf den Rücksitz. Isabel stand unbeweglich da und schaute zu, wie das Auto, die Frau und ihr Beutel mit dem Wörterbuch davonfuhren. Vielleicht würde sie sie noch einmal wiedersehen, womöglich aber auch nicht. Nicht so schlimm, den Verlust eines Wörterbuchs konnte sie verschmerzen. Ihr kleines Portemonnaie steckte in ihrer Hosentasche.
Als sie zurück im Hotel war, beschloss sie, das Abendessen heute nicht im Speisesaal einzunehmen. Sie rief den Zimmerservice an und bat darum, dass das Menü auf ihr Zimmer gebracht wurde. Sie hatte heute Abend keine Lust darauf, als einziger Gast allein an einem Tisch zwischen all den Paaren und Familien zu sitzen.
Allein der Gedanke, „Einen Tisch für eine Person“ oder „Ich esse allein“, sagen zu müssen, machte sie traurig. Warum sollte sie sich den mitleidigen Blicken fröhlicher und geselliger Restaurantgäste aussetzen? Das konnte sie heute nicht
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