Kuesse - heiß wie die Sonne Siziliens
ganzen Familie, dass ich sie zurückbekomme.“
Isabel verstand nicht, warum er die Verantwortung übernahm oder warum er seinen Angehörigen etwas schuldete, wenn es doch ein Familienunternehmen war, aber sie hörte sehr deutlich den scharfen Unterton in seiner Stimme. Er verfolgte nicht nur zielstrebig seine Interessen, sondern hatte zudem den ganzen Clan hinter sich. Sie war eindeutig in der Minderheit. Doch letztlich war es egal. Sie hielt die notarielle Besitzurkunde in ihren Händen. Nicht die anderen. Ja, es tat ihr leid für seinen Großvater, aber ausnahmsweise ging sie hier vor.
Schließlich konnten sie sie nicht zwingen zu verkaufen – es sei denn, ihr Wein würde so miserabel werden, dass sie ihn nicht verkaufen konnte. Oder es sei denn, es stimmte, was er über die Wartezeit von einigen Jahren gesagt hatte, die es brauchte, bis man Profit erzielte. Oder aber es passierte irgendetwas anderes Unvorhergesehenes. Trotz der glühenden Mittagshitze lief ihr ein Kälteschauer über die Arme. War es ein Riesenfehler gewesen, herzukommen? Wenn sie zurückdachte, hatten sich alle Überraschungen in ihrem Leben bislang immer als schlechte Wendungen erwiesen. Alle, bis auf diese Erbschaft, die sie als Zeichen dafür wertete, dass sich das Blatt endlich zu ihren Gunsten gewendet hatte.
Ihr fiel auf, dass Dario in seiner Liste der Verwandten keine Ehefrau erwähnt hatte. Was nichts heißen musste. Ein Mann, der so aussah wie er, blieb bestimmt nicht lange allein. Aber welche Frau würde die Bitterkeit klaglos hinnehmen, die sie in seiner Stimme gehört hatte, oder diese Besessenheit, die keinen Raum für etwas anderes ließ? Ob er wohl in mir die gleichen Charakterzüge erkennt? fragte sich Isabel. Nein, verbittert war sie gewiss nicht, entschlossen hingegen sehr. Er sollte ihr eigentlich das kleine Stück Land nicht neiden, wo er doch das halbe Tal besaß.
Sie würde gern seine Familie kennenlernen, schließlich waren es ihre Nachbarn, und sie wollte zur Gemeinschaft gehören. Aber wahrscheinlich hassten sie sie jetzt schon, da sie sich weigerte ihnen das Land zu verkaufen. Trotz allem beneidete sie ihn. Was würde sie nicht alles geben für eine große Familie, in der man sich ärgerte und gegenseitig nicht mit Kritik sparte, aber gleichwohl sich von Herzen liebte.
„Was denkt Ihre Familie über Sie?“, fragte sie geradeheraus. Vielleicht war sie ja die einzige Person, die ihn als schwierigen Menschen wahrnahm. Was sie stark bezweifelte. Nicht mit diesem kantigen Kiefer, den eiskalten blauen Augen und der Kinnpartie, die auf Eigensinn und Sturheit hindeutete. Oder verwandelte er sich zu Hause plötzlich in einen gehorsamen, liebenswerten Enkelsohn und toleranten Bruder? Kaum vorzustellen.
„Meine Verwandten finden mich kalt, skrupellos und hartherzig. Sie sagen, ich sei anders als sie, weil mir die sizilianische Leichtigkeit abgehe. Ich bin ihnen nicht entspannt genug. Zu entschlossen, zu getrieben, verrannt. Wenn etwas schiefläuft, zucke ich nicht einfach mit den Schultern und setze darauf, dass morgen alles besser wird. Ich mache es besser. Darum …“ Er hielt mitten im Satz inne, wandte aber seinen Blick nicht von ihr ab, als ob er ihr auf diese Weise klarmachen wollte, dass sie gegen einen Gegner wie ihn nicht die Spur einer Chance hatte. Sie konnte sich seine nächsten Worte schon ausmalen: Darum wird dieses Land wieder in meinen Besitz übergehen .
„Ihr Familie liebt Sie trotzdem, nicht wahr?“ Hoffentlich klang sie nicht so skeptisch, wie ihre Einschätzung tatsächlich war.
Er antwortete nicht. Sie unterbrach das Schweigen nach einem kurzen Moment. „Sie haben großes Glück. Ich habe meine Eltern niemals kennengelernt. Keine Großeltern, kein Zuhause, keine Familie. Ich war ein Waisenkind.“ Sie sagte das beiläufig, so als wäre der Umstand, Waise zu sein, nicht bedeutsamer als braune Augen zu haben oder Linkshänderin zu sein. Sie hasste es, beim Mitleid auf der Empfängerseite zu stehen. Aber wie sehr hatte sie die Kinder beneidet, die geborgen in einer Familie und einem Haus lebten, ganz besonders diejenigen, deren Großmütter noch da waren. Von Omas, die kochten und selber duftendes Brot backten, die Schürzen trugen und auf deren Schoß man sich einkuscheln konnte, hatte sie nur in Kinderbüchern gelesen oder von anderen Kindern erzählt bekommen. Aus Erfahrung kannte sie sie bestimmt nicht. „Ich bin bei verschiedenen Pflegeeltern aufgewachsen.“
Er schaute irritiert, sagte
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