Küsse im Mondschein
ließ ihren Blick, scharf wie aus Adleraugen, über Martins elegant gestutzte Locken schweifen, über seine der neuesten Mode entsprechend ganz in vornehmes abendliches Schwarz gehüllten Schultern, über das perfekt geknotete Halstuch und über die selbstverständlich ebenfalls ganz und gar untadelige Weste. Und sie durfte dies, war sie doch eine der engsten Freundinnen seiner Mutter gewesen. Schließlich nickte sie wohlwollend. »Was für eine Freude zu sehen, dass Ihr Eure Höhle nun doch endlich wieder verlassen habt.«
Langsam wurden die Unterhaltungen unten im Ballsaal wieder aufgenommen - hektisches Geflüster und Getuschel ertönte.
Martin nickte Lord Matcham zu, der wiederum den Kopf leicht neigte und offensichtlich ebenfalls überaus erstaunt war über Martins so völlig unerwartetes Erscheinen. Dann erwiderte Martin: »Ich denke, es war ganz einfach an der Zeit. Und die Ankunft Eurer Einladung erschien mir da geradezu als ein Wink des Schicksals.«
»Ach, wirklich?« Mit einer leicht ungeduldigen Handbewegung scheuchte Lady Matcham ihren Mann davon, ergriff Martins Arm und wandte sich zur Treppe um. »Nun ja, wenn ich mich recht erinnere, wusstet Ihr Euch ja schon immer recht schmeichelhaft auszudrücken - aber das werdet Ihr auch wahrlich brauchen, seid gewarnt. Denn ich beabsichtige, Euch nun jeder einzelnen Gastgeberin vorzustellen, deren Einladungen Ihr im vergangenen Jahr so beharrlich ignoriert habt.«
Die Lippen zu einem kleinen, leicht gelangweilten Lächeln verzogen, neigte Martin den Kopf. »Wenn Ihr meint, dass dies vonnöten ist.«
»Oh, und ob ich das meine«, entgegnete Lady Matcham. »Das meine ich sogar ganz entschieden.«
Damit geleitete er sie die Treppe hinab und in den riesigen Ballsaal hinein. Zwar war Lady Matcham bereits eine Gastgeberin von Rang und Namen - der heutige Abend jedoch, und natürlich Martins Anwesenheit, würden ihr Ansehen, ihre Position noch um ein Beträchtliches erhöhen. Der soeben errungene gesellschaftliche Erfolg sollte durch die nun anstehende Vorstellungsrunde also quasi manifestiert werden. Aber diesen kleinen Preis war Martin bereit zu zahlen.
Denn nicht zuletzt könnte es auch ihm durchaus noch zum Vorteil gereichen, wenn Lady Matcham ihn nun all jenen - bereits etwas gesetzteren - Damen vorstellte, die in der Londoner Gesellschaft ganz ohne Zweifel das Sagen hatten. Er bemühte sich also um höfliche Verbeugungen, tauschte einige amüsante, zum Teil auch schlagfertige Bemerkungen mit den Damen und verlieh damit ganz im Verborgenen zugleich seinem ultimativen Plan den letzten Schliff. Jenem Plan, mit dem er endlich Amandas Hand gewinnen wollte.
Die meisten der Gastgeberinnen waren einfach nur erfreut, ihn wiederzusehen, ein paar Worte mit ihm wechseln zu können und ihm das Versprechen zu entlocken, dass er ihre nächsten Einladungen ganz bestimmt nicht mehr so leichtfertig ausschlagen würde. Zwei dagegen, Lady Jersey die Jüngere und Gräfin Lieven - die eine unglaublich geschwätzig, die andere kalt und hochmütig -, versuchten auf jeweils ganz unterschiedliche Art und Weise, Martin außer der üblichen Konversation auch noch eine Erklärung für seinen unerwarteten Sinneswandel abzuringen. Eine Erklärung dafür, warum er sie plötzlich wieder zur Kenntnis nahm, jene Welt, vor der er in den vergangenen Jahren noch rigoros die Tür verschlossen hatte. Doch Martin lächelte lediglich höflich und ließ die beiden Damen weiter raten, war dies doch der beste Weg - wie er sehr genau wusste -, um sich auch weiterhin ihrer Beachtung zu versichern. Denn den beiden war selbstverständlich klar, dass irgendetwas ihn hierhergelockt haben musste. Und so eifrige Klatschbasen, wie sie nun einmal waren, würden sie nichts unversucht lassen, um letztlich doch noch hinter sein Geheimnis zu kommen.
Nach einer langen Unterhaltung mit der betagten Lady Osbaldestone - Martin war verblüfft, dass die alte Cholerikerin tatsächlich noch am Leben war und außerdem auch noch immer so schrecklich einschüchternd wirkte - wandte er sich wieder Lady Matcham zu, die ihn nachdenklich anschaute. »Gibt es da vielleicht irgendjemanden, irgendeine junge Dame, der Ihr gerne vorgestellt werden möchtet?«
Martin sah sie offen und geradeheraus an. »Ja.« Dann hob er den Kopf und ließ den Blick über den Saal schweifen. »Es gibt da eine junge Dame in einem aprikosenfarbenen Abendkleid. Sie steht dort drüben in der Mitte dieser Gruppe.«
»Oh?« Lady Matcham war zu klein, um
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