Küsse im Mondschein
dachte, wollte sie lieber auf Nummer Sicher gehen - was bedeutete, dass sie sich zwar noch mit Martin unterhalten, ihn aber auf keinen Fall mehr küssen würde. Natürlich wollte sie Martin noch immer dazu ermuntern, sich ihr endlich ganz offen zu erklären, aber sie war entschlossen, zugleich auch eine klare Grenze ziehen, über die er sie nicht mehr würde hinauslocken können. Die sie nicht mehr überschreiten würde. Nicht, ehe er...
»Miss Cynster?«
Amanda wandte sich um. Ein Bote verbeugte sich vor ihr und streckte ihr ein kleines Tablett entgegen, auf dem eine Nachricht für sie lag. Amanda nahm den Brief entgegen, trat von der Chaiselongue fort, auf der ihre Mutter und ihre Tanten saßen, und entfaltete das Zettelchen.
Kommt rasch auf die Terrasse vor dem Ballsaal. Ich bin mir sicher, Ihr werdet fasziniert sein von der Entdeckung, die Ihr dort machen könnt.
Die Nachricht trug keine Unterschrift; und von Martin stammte sie jedenfalls nicht. Denn seine Schrift war groß und schwungvoll und fast schon ein wenig nachlässig. Diese Handschrift dagegen wirkte gedrungen, ganz so, als ob jeder einzelne Buchstabe mit fest zusammengeballter Faust geschrieben worden wäre.
Es war noch recht früh am Abend, und der Ballsaal war erst halb voll. Trotzdem waren für den Fall, dass Amanda plötzlich Hilfe brauchen sollte, bereits genügend Gäste anwesend. Sie faltete das Briefchen wieder zusammen, steckte es in ihr Retikül, entschuldigte sich bei ihrer Mutter und ihren Tanten und glitt dann durch den Saal davon.
Die Türen, die zur Terrasse führten, waren geschlossen; sie spähte vorsichtig hindurch, konnte draußen aber niemanden erkennen. Schließlich öffnete sie einen der Türflügel und trat hinaus. Sogleich fasste sie ihren Schal ein wenig fester, denn eine plötzliche Brise zerrte an dem zarten Stoff.
Amanda konnte die Tür nicht offen lassen, dann hätten die Vorhänge sich verräterisch aufgebauscht. Sie sah sich um, doch es war niemand zu entdecken, der vielleicht über die steinernen Verandaplatten geschlendert wäre. Andererseits war die Terrasse sehr weitläufig und von dichtem Buschwerk gesäumt, von dem aus sich dunkle Schatten erstreckten. Widerwillig schloss Amanda den Türflügel hinter sich. Den Schal eng um sich gewickelt, wanderte sie langsam auf und ab, blieb dabei aber immer dicht vor der Fensterfront des Ballsaales und achtete darauf, nicht den schmalen Lichtstreifen zu verlassen, der aus den Fenstern nach draußen fiel.
Nicht ein Laut drang an ihr Ohr, abgesehen von dem leisen Rauschen des Windes.
Schließlich wandte sie sich wieder um, ging genau den Weg zurück, den sie eben schon einmal entlanggeschritten war, bis sie das andere Ende des Ballsaales ereichte. Ihr wurde zunehmend kälter. Dann, die Stirn in Falten gelegt und einen leisen Fluch auf den Lippe, drehte sie sich schwungvoll um -
»Miss Cynster... Miss Amanda Cynster...«
Sie blieb stehen und spähte in Richtung jener düsteren Schatten, die sich ihr bei näherem Hinsehen als der Eingang zu einem kleinen Gartenhain entpuppten. Und wieder rief die körperlose Stimme.
»Kommt zu mir, meine Liebe, kommt ins Mondlicht, damit wir -«
»Kommt hervor und zeigt Euch!« Mit finsterem Gesichtsausdruck grübelte Amanda angestrengt darüber nach, welcher ihrer Bekannten dies wohl gerade sein mochte. Der Tonfall kam ihr durchaus bekannt vor, und gleichzeitig verstellte der Sprecher seine Stimme - sie schien irgendwie süßlich und mädchenhaft. Dennoch war es definitiv ein Mann, der da sprach. »Wer seid Ihr? Nur ein Schurke würde sich so aufführen.«
»Würde sich wie aufführen?«
Amanda wirbelte herum. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie, als Martin durch die Tür des Ballsaales getreten kam und sie gleich wieder hinter sich schloss. Von weitem ertönte ein Rascheln, dann drang nur noch das Geräusch sich eilig entfernender Schritte zu ihnen herüber. Martin trat auf Amanda zu, schaute sie besorgt an. Er ließ den Blick einmal über die Terrasse schweifen; dann richtete er ihn wieder auf Amandas Gesicht. »Mit wem sprichst du eigentlich?«
»Das weiß ich ja selbst nicht!« Sie deutete in Richtung der Büsche. »Irgend so ein Geistesgestörter hatte sich da drin versteckt und wollte mich zu sich locken.«
»Ist das wirklich wahr?«
Irgendetwas in Martins Tonfall ließ sie aufhorchen, verwirrte sie. Unwillkürlich hob Amanda den Kopf und sah, wie Martin mit bedrohlichem Blick in Richtung des Gartenhains schaute. Auch
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