Küsse im Mondschein
ansehnlicher Haufen, der sich da angesammelt hatte. Neugierig nahm Martin die zu Bündeln zusammengeschnürten Schreiben heraus und blätterte sie durch …
Sie waren allesamt an ihn adressiert. Und in der Handschrift seines Vaters verfasst.
Martin starrte auf die Briefe. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was... Außerdem fragte er sich, wann sein Vater die wohl geschrieben haben mochte.
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Noch einmal öffnete er die oberste Schublade, zog einen Brieföffner heraus und schlitzte das erste Päckchen der zusammengebündelten Schreiben auf. Nach einem kurzen Blick auf das Datum öffnete er auch die anderen Bündel und breitete die Briefe in chronologischer Reihenfolge auf dem Tisch aus. Die Briefe umfassten einen Zeitraum von neun Jahren; der erste war vier Tage, nachdem Martin sein Elternhaus verlassen hatte, geschrieben worden - oder genauer gesagt, nachdem er verstoßen worden war.
Er atmete einmal tief durch, wappnete sich im Geiste und nahm dann entschlossen den ersten Briefbogen auf.
Martin, mein Sohn - mein Urteil war falsch.
So schrecklich falsch. In meiner Arroganz und ...
Martin musste aufhören zu lesen, musste den Blick von den Zeilen lösen und sich regelrecht zwingen weiterzuatmen. Seine Hand zitterte, und er legte den Brief zurück auf den Tisch. Dann stand er auf, ging zum Fenster hinüber, zerrte an dem Riegel und schob den unteren Teil des Schiebefensters hoch. Er beugte sich hinaus und hieß die kühle Luft des Tales in seinen Lungen willkommen. Atmete ein paarmal tief durch, versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück, setzte sich, nahm den Brief wieder auf und las aufmerksam jedes einzelne Wort.
Als er am Ende angelangt war, starrte er stumm auf die Tür. Die Vergangenheit, wie er sie zu kennen geglaubt hatte, war in tausend Stücke zerbrochen - und formte sich in diesem Moment zu einem neuen Bild zusammen. Er schloss die Augen, saß eine Weile einfach nur da, reglos, und malte sich im Geiste aus...
Was das Zerwürfnis seiner Mutter angetan haben musste.
Was diese Seelenqualen seiner Mutter, die Schuld und die zermarternden Selbstvorwürfe, die Martin aus dem Brief herausgelesen hatte, für seinen Vater bedeutet haben mussten. Jenen Vater, der stets so selbstgerecht gewesen war, immer so sehr darauf bedacht, das Richtige zu tun. Und der auch von anderen gern als derjenige gesehen werden wollte, der immer korrekt handelte.
Schließlich öffnete Martin die Augen wieder und las auch den Rest der Briefe. Dem letzten lag auch noch eine kleine Notiz seiner Mutter bei, die sie kurz vor ihrem Tod geschrieben hatte. Darin bat sie Martin, ihnen beiden - ihr und seinem Vater - zu vergeben und zurückzukehren, damit dieser das Unrecht, das er seinem Sohn angetan hatte, wieder gutmachen könne. Die Worte seiner Mutter setzten ihm noch härter zu als alles, was sein Vater ihm geschrieben hatte.
Er saß noch immer still in dem Sessel hinter dem Schreibtisch, die Briefe und noch einige andere Dokumente lagen vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch, und die Schatten waren mittlerweile schon ein gutes Stück weiter über den Boden gekrochen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.
Amanda schaute herein, hielt einen Moment inne. Die Luft schien schwer von Emotionen. Es war zwar keine bedrohliche Stimmung, die sie hier erspürte, und dennoch... leise schloss sie die Tür und trat neben Martin.
Endlich nahm er sie wahr, schaute auf, blinzelte - und zögerte. Schließlich aber legte er den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran. Lehnte den Kopf gegen sie und drückte sie noch ein wenig fester an sich.
»Sie wussten es.«
Amanda konnte sein Gesicht nicht erkennen. »Dass du nicht der Mörder warst?«
Er nickte. »Ja, es hatte wohl nur wenige Tage gedauert, bis auch sie das begriffen hatten. Und gleich darauf hatten sie mir offenbar einen Boten nachgeschickt. Aber...«
»Aber was? Wenn sie es nun also doch wussten, warum durftest du dann trotzdem all die Jahre über nicht wieder nach England zurückkehren?«
Zitternd atmete Martin einmal tief durch. »Ich sollte auf dem Kontinent leben, dort, wo alle begüterten und betitelten Schurken hingingen, wenn ihnen England zu gefährlich wurde. Meine Eltern hatten bereits alles in die Wege geleitet. Ich jedoch dachte mir, wenn mein Vater mich fortan verleugnete, dann bräuchte ich mich auch nicht mehr an seine Anweisungen zu halten. Statt nach Dover zu reisen
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