Küsse im Morgenlicht
Sehnsucht. Das Bedürfnis, Amelia endlich etwas noch viel Wertvolleres zu schenken, als er ihr jemals zuvor gegeben hatte. Etwas, das sie in ihre Arme schließen und liebkosen konnte.
Sie schimpfte leise über die widerspenstigen Knöpfe. Das verwirrende Gefühl in Lucs Magengegend ließ wieder etwas nach, verschwand aber nicht ganz. Er tat einen tiefen Atemzug und war froh darüber, dass Amelia gerade abgelenkt war. Er umfasste ihr Handgelenk. Genauso, wie er es schon einmal getan hatte, so schob er auch jetzt mit einigen raschen, geschickten Bewegungen die Perlknöpfchen durch die winzigen Schlaufen. Dann sah er ihr in die Augen, hob flüchtig ihr Handgelenk an seine Lippen und legte schließlich fest die Finger um ihre Hand. »Komm. Die Pferde stehen schon bereit.«
Im Vorhof angekommen, hob er Amelia in den Sattel ihrer Stute und beobachtete kritisch, wie sie die Füße in den Steigbügeln platzierte und die Zügel ergriff. Es war bereits einige Jahre her, seit er das erste Mal mit ihr ausgeritten war. Mittlerweile aber hielt sie die Zügel schon wesentlich selbstsicherer, und auch ihre Haltung hatte sich deutlich verbessert. Zufrieden schlenderte Luc zu seinem Jagdpferd hinüber, schwang sich hinauf und ritt nach einem kurzen Nicken in Amelias Richtung die Auffahrt hinab.
Seite an Seite trabten sie in einem entspannten Kanter durch die frühmorgendliche Luft, über weite, grüne Felder und durch Wäldchen und Gehölze hindurch. Ihr Ziel lag in südlicher Richtung von Calverton Chase. Gelegentlich mussten sie über die eine oder andere Bruchsteinmauer springen, doch Luc kannte diese Gegend und auch die umliegenden Ortschaften wie seine Westentasche, wusste, wo verborgene Bodensenken lauerten oder tückisches Mauerwerk sich versteckte - und er mied gewissenhaft alle die Wege, die ihm zu schwierig erschienen.
Amelia erahnte durchaus, dass er ihr keine zu hohen Hindernisse zumuten wollte, doch sie ließ sich nichts anmerken und nahm jeden Sprung mit einer solch absoluten Selbstsicherheit, dass es Luc zum einen durchaus beruhigte, zum anderen aber auch verwirrte. Ihr Selbstvertrauen war ein weiteres Zeichen dafür, dass sie eine Veränderung durchgemacht hatte, dass sie erwachsener, reifer geworden war. Sie war nun kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau.
Über ihnen spannte sich der Sommerhimmel, eine schier unendliche Fläche von makellosem Blau, nur hier und da durchsetzt von zarten Wolkenschleiern, die die Wärme der Sonne ein wenig milderten. Ringsumher hörte man das leise Zirpen von Grillen oder das hektische Rascheln von aufgeschrecktem Rotwild, das durchs Unterholz floh, während Luc und Amelia an einem kleinen Wäldchen vorbeiritten. Doch das waren auch schon die einzigen Geräusche, die an diesem Morgen zu hören waren; abgesehen von dem gleichmäßigen, dumpfen Trommeln der Pferdehufe.
Erst am äußersten Rand des Tales von Welland, hoch oben auf dem Hügelkamm, zogen Luc und Amelia die Zügel ihrer Tiere an und blickte hinab auf das üppige, grüne Land, durch das sich wie ein feines, silbrig glitzerndes Band der Fluss schlängelte.
»Wo hört das Land, das dir gehört, auf?«
»Der Fluss ist die Grenzlinie. Unser Haus liegt also im nördlichen Teil meines Anwesens.«
»Dann sind die dort«, Amelia zeigte auf eine Ansammlung von Schieferdächern, die man durch die Bäume hindurch erkennen konnte, »also auch deine?«
Luc nickte und ließ sein gesprenkeltes Jagdpferd in Richtung der Häuser wenden. »An einem der Cottages lassen wir gerade ein paar Reparaturen vornehmen. Am besten, ich schaue mir gleich selbst einmal an, wie es mit den Arbeiten vorangeht.«
Amelia trieb ihre kastanienbraune Stute hinter Lucs Hengst her, folgte ihm zunächst über den Bergrücken und dann über den sanft abfallenden Abhang bis hinunter zu den Hütten.
Bei näherem Hinsehen erwiesen die Gebäude sich als durchaus solide kleine Häuschen, die aus dem in dieser Gegend häufig vorkommenden bräunlich roten Stein errichtet worden waren. Das mittlere von ihnen wurde gerade neu gedeckt - im Augenblick ragten die nackten Dachsparren in die Luft. Überall auf dem hölzernen Skelett hockten Männer und fügten neue Streben ein. Lautes Hämmern schallte Luc und Amelia entgegen.
Der Vorarbeiter sah sie als Erster, winkte ihnen zu und kletterte vom Gerüst hinab. Auch Luc stieg von seinem Pferd, schlang die Zügel locker um einen Ast und war dann Amelia beim Absitzen behilflich.
»Während der Unwetter im letzten
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