Küsse im Morgenlicht
Winter ist ein riesiger Ast mitten durchs Hausdach geschlagen. Seitdem war das Gebäude nicht mehr bewohnbar.« Mit einem knappen Nicken deutete er auf eines der anderen beiden Cottages, aus dem gerade eine ganze Schar kleiner Kinder herausströmte und die Besucher mit offenen Mündern neugierig musterte. »Die drei Familien haben sich nun schon fast sechs Monate lang die beiden Häuser teilen müssen.«
Als der Vorarbeiter auf ihn zukam, wandte Luc sich wieder von der Betrachtung der Häuser ab. Er stellte dem Mann Amelia vor, und dieser neigte höflich den Kopf und lüpfte seine Kappe, konzentrierte seine Aufmerksamkeit dann jedoch wieder auf Luc.
Luc begutachtete kritisch die Reparaturarbeiten. »Ihr seid schneller vorangekommen, als ich erwartet hatte.«
»Ja.« Auch der Dachdecker betrachtete sein Werk.
Amelia entschied unterdessen, dass sie die beiden nun wohl besser erst einmal alleinließ, und ging auf die Kinder zu. Schließlich war dies doch die ideale Gelegenheit, um endlich ein paar der Familien kennen zu lernen, die auf Lucs Gütern lebten.
»Und ich sag Euch«, fuhr der Vorarbeiter unterdessen fort, »hätten wir die Bestellung nicht noch vorm Juni in Auftrag gegeben, dann hätten wir aber ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt. Der Holzhändler hatte nämlich man gerade eben noch genug auf Lager, um uns mit der nötigen Menge zu beliefern. Ich mein, wenn man mal die ganzen Reparaturen bedenkt, die hier überall in Angriff genommen werden sollten, sobald das Wetter sich wieder besserte... eine Woche, und das Holzlager war restlos leer gekauft.«
»Und dennoch seid Ihr gut vorangekommen, wie es scheint. Wie lange wird es noch dauern, bis Ihr die Schindeln wieder aufdecken könnt?«
Amelia ließ die Stimmen hinter sich verhallen, trat auf das erste der kleinen Kinder zu, beugte sich hinab und lächelte es freundlich an. »Hallo. Ich wohne da drüben in dem großen Haus - in Calverton Chase. Ist deine Mutter zu Hause?«
Neugierig und mit großen Augen starrten die jüngeren der Kinder sie an. Eines der älteren, das an der Tür stehen geblieben war, wandte sich zum Hausinneren um und rief: »Ma! Die neue Lady is hier!«
Diese Ankündigung löste eine Panikattacke mittlerer Größenordnung unter den Hausbewohnerinnen aus. Es verging eine gute halbe Stunde, bis Amelia die drei jungen Mütter endlich davon hatte überzeugen können, dass sie keinerlei besondere Bewirtung erwartete. Dann setzte sie sich mit einem Glas Limonade auf einen kleinen Plausch zu zwei alten Frauen, die am Kamin hockten. Überrascht, dass Luc sie noch immer nicht abgeholt hatte, trat Amelia schließlich wieder hinaus auf die kleine Veranda und sah sich um. Die Pferde standen noch immer unter dem Baum, wo sie friedlich grasten. Von Luc aber war weit und breit keine Spur zu sehen. Dann hörte sie plötzlich seine Stimme und drehte sich um.
Ihr Ehemann hatte sein Reitjackett abgelegt. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, das Halstuch locker um den Hals geschlungen, balancierte er gerade über einen der Querbalken des neuen Daches. Die Hände in die Hüften gestemmt, hüpfte er ein paar Mal vorsichtig auf der Stelle, um die Stabilität des Balkens zu prüfen, und steckte offenbar gerade mitten in einer angeregten Diskussion über die Konstruktion des Dachgerüsts. Scharf umrissen hob sich seine Silhouette vor dem blauen Himmel ab, und eine leichte Brise zerzauste sein schwarzes Haar - er sah geradezu sündhaft attraktiv aus.
Da zupfte plötzlich schüchtern eine kleine Hand an ihrem Ärmel. Amelia riss den Blick von ihrem Ehemann los, schaute nach unten und sah ein hübsches kleines Mädchen mit lockigem braunen Haar und großen, dunklen Augen, das zu ihr aufblickte. Die Kleine musste etwa sechs oder sieben Jahre alt sein.
Sie räusperte sich und schaute sich noch einmal nach ihren Freundinnen und Freunden um; das Mädchen schien die Anführerin der kleinen Gruppe zu sein. Dann atmete die Kleine ein Mal tief durch, blickte abermals zu Amelia auf und fragte: »Wir wollten gern wissen... sind alle Eure Kleider so schön wie das da?«
Amelia sah an ihrem Sommerreitkostüm hinunter. Sie selbst fand das Kleid eigentlich auch recht ansprechend, und doch konnte man es wohl kaum mit ihren Ballroben vergleichen. Sie überlegte sich ihre Antwort sorgfältig, erinnerte sich wieder daran, wie kostbar doch die Träume sein konnten, die man als kleines Kind hegte. »Oh«, erwiderte sie schließlich, »ich habe sogar noch viel schönere
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