Küsse im Morgenlicht
- ein Trick, mit dem sie die Tatsache, dass ihre Kleiderschränke nur recht spärlich ausgestattet waren, noch ein wenig länger vor den Adlerblicken der Londoner Damen hatten verbergen können. Amelia notierte rasch, dass die Komplettierung von Annes Garderobe unbedingt oberste Priorität haben musste. Schließlich sah es ganz danach aus, als ob ihre Tauschpartnerin Emily das Haus schon bald verlassen würde.
»Ich bin mir ganz sicher, dass es hier lag.« Anne stellte sich auf die Zehenspitzen, schob ihre bescheidenen Habseligkeiten von rechts nach links und wieder zurück. »Ah - da ist es ja.«
Sie zerrte das Retikül an seinen dünnen Trageriemen unter einigen anderen Täschchen hervor und warf es mit einem triumphierenden Grinsen quer durch den Raum neben Emily auf das Bett.
Emily lachte, fing die Tasche auf - dann aber sah sie überrascht auf. »Die ist aber schwer. Was hast du denn da bloß drin versteckt?«
Vorsichtig versuchte Emily, durch die rote Seide zu ertasten, was sich wohl in dem Täschchen verbergen mochte. Sie sah zunehmend verwunderter aus.
Amelia beobachtete derweil Anne, doch in ihren Zügen und den sanften braunen Augen schien sich nichts als Verwirrung zu spiegeln. »Ich denke mal, ein Taschentuch, ein paar Haarnadeln. Ich weiß doch selbst nicht, was da angeblich so schwer sein soll...« Nun aber konnten sie alle sehen, wie sich deutlich eine kantige Silhouette unter Emilys Händen abzeichnete. »Lass mal sehen!«
Anne marschierte zum Bett hinüber und stellte sich dicht neben Emily. Auch Amelia stand auf und trat zu ihnen. Mittlerweile hatte Emily die feinen Kordeln, mit denen das Retikül zugebunden war, aufgeknüpft, zog das Oberteil auseinander und spähte ins Innere. Dann griff sie stirnrunzelnd hinein und hob das fragliche Stück heraus. Es war ein -
»Ein Lorgnon.« Verwundert hielt Emily es empor. Sie alle starrten auf den kunstvoll verzierten Stiel und die kleinen Juwelen, die funkelnd die gesamte Länge des Griffs schmückten.
»Wem, um alles in der Welt, gehört denn das?«
Es war Anne, die spontan mit dieser Frage herausplatzte. Amelia starrte sie an, musterte ihre Schwägerin eindringlich und forschend. Doch ganz gleich, wie genau sie auch hinschauen mochte, so konnte sie in dem Gesicht der jungen Frau doch nichts als ehrliche Verwunderung erkennen.
»Und vor allem - wie ist es da reingekommen?« Anne schaute zurück zu ihrem Kleiderschrank, drehte sich schließlich ganz um und marschierte wieder zu dem Bord mit den Taschen hinüber. Ohne dass Amelia irgendetwas in der Art vorschlagen musste, riss Anne nun abermals sämtliche Täschchen und Hutschachteln aus dem Schrank. Obwohl sie diese alle bereits gründlich inspiziert hatten. Erst als das Regalbrett komplett geleert war, kniete sie sich auf den Boden, schob hektisch die Hutschachteln zur Seite und unterzog den kleinen Taschenhaufen einer erneuten sorgfältigen Prüfung. Sie öffnete jede einzelne und schüttete den jeweiligen Inhalt aus. Zum Vorschein kamen wieder allerlei Taschentücher, Haarnadeln, ein Kamm und zwei kleine Fächer.
Sonst nichts.
Damit ließ sie sich auf ihre Fersen zurücksinken und starrte blicklos in die Luft. »Ich verstehe das nicht.«
Auch Amelia konnte sich keinen Reim auf diesen merkwürdigen Fund machen. »Und deiner Mutter gehört das Lorgnon wahrscheinlich nicht, oder?«
Emily schüttelte den Kopf. Noch immer musterte sie eingehend die kleine Stielbrille. »Und ich glaube auch nicht, dass ich schon einmal irgendjemand anderen damit gesehen habe.«
Amelia nahm ihr das Lorgnon ab. Es war wirklich außergewöhnlich schwer, und darum konnte sie sich auch nicht vorstellen, wer solch ein unhandliches Ding mit sich herumtragen sollte. Anne stellte sich dicht neben Amelia, starrte stirnrunzelnd auf die Brille hinab und wirkte, als ob sie plötzlich die Welt nicht mehr verstünde.
»Das muss wohl aus Versehen in dein Retikül gelangt sein.« Damit ließ Amelia das Stück in die Tasche ihres Tageskleids gleiten. »Ich werde mich mal umhören. Es sollte ja wohl kein allzu großes Problem sein, den Eigentümer ausfindig zu machen.« Sie schaute sich um. »Also, haben wir die Musterung eurer Kleiderschränke damit abgeschlossen?«
Anne blinzelte, schaute noch ein letztes Mal in ihren Schrank und entgegnete ein wenig benommen: »Ja, ich glaube schon.«
Emily schnappte sich das rote Retikül und sprang schwungvoll von Annes Bett. »Da fällt mir gerade ein - wir wollten heute doch noch die
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