Küsse im Morgenlicht
bewusst wahrgenommen habe, sei allerdings bereits einige Wochen her, so erklärte er.
»Das kleine Andenken gehörte nun einmal nicht zu jener Sorte Dinge, die ich mir jeden Tag aufs Neue ansehe. Es reichte mir zu wissen, dass er da war.«
Er verdächtigte niemanden, ganz besonders nicht die Bewohner von Calverton Chase, sodass schnell klar wurde, dass der einzige Grund, weshalb der General die Ashfords aufgesucht hatte, die Hoffnung auf ein wenig Trost war. Und dieser Trost wurde ihm von den Damen natürlich auch nicht vorenthalten, sodass er die Gesellschaft zwar nicht in fröhlicher Stimmung verließ, jedoch immerhin wieder ein wenig ruhiger wirkte und vielleicht sogar tatsächlich ein wenig Geborgenheit gefunden hatte. Kaum aber, dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wurde die Stimmung im Salon von Calverton Chase sehr ernst. Luc, Lucifer, Amelia und Phyllida tauschten bedeutungsschwangere Blicke.
Arthur, Minerva, Helena und Louise bemerkten diese Blicke natürlich ebenfalls und tauschten wiederum ihrerseits verstohlen die eine oder andere kleine Geste aus. Minerva war die Erste, die sich schließlich wieder erhob, ihre Röcke ausschüttelte und verkündete: »Am besten, wir gehen jetzt alle auf unsere Zimmer und ziehen uns zum Abendessen um. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Penelope und Portia wieder herunterkommen. Und stellt euch vor, wir sitzen dann immer noch hier - grübelnd und ohne angemessene Kleidung fürs Abenddinner.«
Damit löste die Gruppe sich auf, und alle kehrten in ihre Räumlichkeiten zurück.
»Wir müssen uns später noch einmal unterhalten«, murmelte Lucifer, als er neben Luc die Treppe hinaufschritt.
Luc nickte. »Und besser, es bleibt nicht nur beim Reden.« Eindringlich schaute er in Lucifers blaue Augen, die fast so dunkel waren wie seine eigenen. »Wir müssen dringend einen Plan entwickeln.«
20
Alle waren sich einig, dass sie warten wollten, bis Emily, Anne, Portia, Penelope und Miss Pink am Abend zu Bett gegangen waren, ehe sie sich abermals jenem Thema widmeten, das sie wohl alle gedanklich derzeit am meisten beschäftigte.
In der Sekunde, in der die Tür sich hinter Miss Pink geschlossen hatte, hob Helena auch schon die Hand und bat um Ruhe. »Bitte bedenkt, dass wir noch einmal ganz am Anfang beginnen müssen. Bei einer solchen Angelegenheit darf man nichts überstürzen und keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das macht einfach keinen Sinn. Zumal wir hier ja ganz unter uns sind und nur innerhalb der Familie sprechen.«
Luc, Amelia, Lucifer und Phyllida tauschten einige rasche Blicke aus, dann nickte Luc zustimmend. Er umriss noch einmal die Diebstähle in den Kreisen der gehobenen Londoner Gesellschaft. Dann erläuterten Lucifer und Amelia, was sie an Anhaltspunkten zur Lösung dieses rätselhaften Puzzlespiels beizutragen hatten.
Schließlich fasste Luc, der zwischenzeitlich zum Kamin hinübergegangen war, noch einmal alles zusammen. »Im Augenblick haben wir noch nicht die geringste Ahnung, wer der Dieb sein könnte. Nach den bisherigen Vorfällen zu urteilen, sieht es aber ganz danach aus - egal, ob das nun bereits eine echte Spur sein mag oder eher ein Zufall -, als ob der Übeltäter...« Er hielt einen Moment inne, und sein Gesicht nahm einen harten Zug an, ehe er fortfuhr: »... als ob der Übeltäter einer von uns ist. Einer von den Ashfords.«
Helena, die so ernst und missgelaunt dreinschaute, wie Amelia sie überhaupt noch nie gesehen hatte, nickte entschieden. »Ganz genau. Man könnte meinen, es wäre eine von deinen Schwestern. Aber wie wir heute gesehen haben, scheint das doch auf der anderen Seite wiederum vollkommen unmöglich...«
Luc musterte sie einen Moment lang nachdenklich und entgegnete schließlich: »Wieso meinst du, dass das nicht möglich wäre?«
Helena starrte ihn an. Dann blinzelte sie. »Ah, ich verstehe. Du möchtest, dass ich es noch einmal mit meinen eigenen Worten sage. Nun gut. Es ist aus dem Grunde unmöglich, dass Emily oder Anne diejenige sein könnte, die dem armen General das goldene Fingerhütchen gestohlen hat, weil beide Mädchen... Wie sagt man? Sie sind doch noch vollkommen naiv, sie sind jeunes filles ingénues . Die beiden sind überhaupt nicht in der Lage, solch ein Stück erst zu stehlen und irgendwo bei sich zu verstecken und dann so zu tun, als wüssten sie von nichts. Nein, das könnten sie mir nicht vormachen. Und auch Louise und all die anderen hier ließen sich nicht dermaßen täuschen. Das ist
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