Küsse im Morgenlicht
Wenn nicht vergangene Nacht, dann aber spätestens an diesem Morgen. Und wenn er ihr schon nicht die gesamte Wahrheit gestand, dann hätte er ihr auf jeden Fall zumindest noch einmal verdeutlichen und erklären müssen, warum sie beim besten Willen nicht so genau aufs Geld zu schauen bräuchte.
Stattdessen aber …
Luc stand am Fenster seines Arbeitszimmers und blickte hinaus auf die Gartenanlagen, während er im Geiste noch einmal den heutigen Morgen durchlebte, als er aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Amelia das Bett bereits verlassen hatte.
Blinde Panik hatte ihn erfasst. Amelia war noch nie vor ihm aufgewacht! Dann aber hatte er gehört, wie sie in ihrem Ankleidezimmer hin und her wanderte, und schon einen kurzen Moment später war sie fertig angekleidet und, bereit, sich in den neuen Tag zu stürzen, wieder ins Schlafzimmer hereingerauscht. Mit einem fröhlichen Gruß war sie um das Bett herumgegangen und hatte ihre Listen vom Boden aufgesammelt.
Dann hatte sie gut gelaunt von all ihren Ideen erzählt, die sie unbedingt noch in die Tat umsetzen musste. Er hatte nicht die leiseste Spur von Besorgnis oder Zurückhaltung erkennen können, weder in ihrem Gesicht noch in ihren blauen Augen. Ungeachtet sämtlicher angeblicher finanzieller Einschränkungen hatte sich Amelia eindeutig ganz obenauf gefühlt, so als wäre sie die Königin der Welt. Die Königin ihrer gemeinsamen Welt. Nur selten hatte Amelia in ihrem Wortschwall innegehalten, um auch Luc einmal etwas hinzufügen zu lassen, sodass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, sie in ihrer angeregten, fröhlichen Geschäftigkeit zu unterbrechen und ihr ein Geständnis aufzuzwingen, das, zumindest in jenem Augenblick, plötzlich nicht mehr ganz so wichtig erschienen war. Es fehlte ihm einfach an Willensstärke, an der nötigen Durchsetzungskraft gegenüber seiner Frau.
»Diese Zahlen da.«
Er wandte sich um. Hinter Lucs Schreibtisch saß Martin und tippte auf den Finanzbericht, den er gerade durcharbeitete. »Sind die korrekt?«
»Soweit man sich da in irgendeiner Weise sicher sein kann, ja. Ich habe sie mir von drei unabhängigen Quellen bestätigen lassen.« Luc zögerte, dann fügte er hinzu: »Ich rechne grundsätzlich erst einmal nur mit fünfzig Prozent von dem, was man mir als Gewinn verspricht.«
Martin hob die Brauen, rechnete rasch einmal nach, stieß einen leisen, doch anerkennenden Pfiff aus und wandte sich dann wieder dem Bericht zu. Ihm gegenüber, unmittelbar auf der anderen Seite des Tisches, saß Lucifer. Auch er war damit beschäftigt, sich durch einen Stapel Papiere durchzuarbeiten, genauer gesagt durch die Einzelheiten einer Reihe von Investitionsmöglichkeiten, denen Luc bereits jeweils ein knappes Gutachten vorangestellt hatte. Lucifer war voll und ganz in seine Arbeit vertieft und schaute, eine Hand in seine tiefschwarzen Locken vergraben, nicht ein einziges Mal auf.
Luc wandte sich wieder der Betrachtung des Panoramas zu und sah Penelope, die aus Richtung der Hundezwinger herbeimarschiert kam, in den Armen einen ungeduldig zappelnden kleinen Hund. Luc war sich ziemlich sicher, dass es sich bei diesem Tier nur um Galahad handeln konnte. Dann trat sie auf die große Rasenfläche vor dem Haus und setzte den Welpen ab. Sofort begann Galahad, aufgeregt umherzurennen, die Nase dicht über dem Boden, als hätte er bereits irgendeine Spur aufgenommen. Er machte seinem Namen wahrlich alle Ehre und schien wie sein berühmter Ahnherr, König Artus’ Ritter, ein echter Fährtenleser zu sein.
Penelope ließ sich langsam ins Gras sinken und beobachtete ihn mit der für sie so typischen ernsten und ungeteilten Aufmerksamkeit. Doch sie waren nicht die einzigen Gäste auf der großen Rasenfläche, denn hinter Penelope kamen noch einige weitere junge Hunde herangestürmt. Es waren jene Tiere, die noch zu jung waren, um mit dem Rudel zu rennen, und die nun unter Portias und Simons Aufsicht umhertollten.
Oder vielmehr beaufsichtigte Portia die Hunde, während Simon, die Hände tief in seinen Taschen vergraben, mehr auf Penelope und Portia zu achten schien.
Was im Grunde ein wenig merkwürdig war, denn Simon war immerhin schon neunzehn, fast zwanzig Jahre alt und hatte sich bereits einen gewissen Schliff angeeignet, der ihn in den Kreisen der Londoner Gesellschaft zu einem beliebten Gast machte. Zudem waren Emily und Anne seiner Altersgruppe wesentlich näher als ihre beiden jüngeren Schwestern. Und dennoch sah man Simon, sobald
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