Küstenfilz
»Der konnte gestern noch gar nicht gehen.«
»Tut mir leid. Mehr
darf ich Ihnen nicht sagen. Sie müssen einen Arzt fragen.« Sie lächelte Lüder
aus einem hübschen Gesicht an. Dabei bildeten sich zwei kleine Grübchen auf
ihren Wangen.
»Wo finde ich den?«
Die junge Schwester
blieb an der Tür des Stationszimmers stehen. »Ich würde Ihnen wirklich gern
weiterhelfen. Aber alle Ärzte sind derzeit beschäftigt. Sie sind alle im OP .« Bevor sie in das Zimmer trat,
schenkte sie Lüder ein weiteres Lächeln.
Das ist die andere
Seite der Zuwanderer in Schleswig-Holstein, dachte Lüder, als ihm wieder
Senkbiels finsterer Zimmernachbar einfiel. Ob der Kurde mit seinen Drohgebärden
Senkbiel so eingeschüchtert hatte, dass der fluchtartig das Krankenhaus
verlassen hatte? Oder gab es andere Gründe? Jetzt war es umso wichtiger, den
Mann zu finden und noch einmal mit den Fakten, die sie bisher zusammengetragen
hatten, zu konfrontieren.
Lüder suchte die
Verwaltung des Krankenhauses auf. Eine freundliche Angestellte erklärte ihm,
nachdem sie ihren Computer befragt hatte, dass Senkbiel auf eigenen Wunsch und
gegen die Empfehlung der Ärzte am Morgen das Hospital verlassen hatte.
Als Nächstes
steuerte Lüder den Empfang an. Er hatte Glück, und die Frühschicht war noch im
Dienst.
»Ich suche einen
Bekannten, der vorhin das Krankenhaus verlassen hat.«
Der ältere Mann
hinter dem Tresen musterte ihn, als hätte er nach den Vornamen der Marsmännchen
gefragt. Lüder beschrieb Senkbiel und ergänzte: »Mein Bekannter kann sich nur
sehr eingeschränkt bewegen.«
»An zwei Krücken?«
Lüder nickte.
»Der hat ‘ne Taxe bestellt
und ist abgeholt worden.«
»Wissen Sie, wie das
Taxiunternehmen hieß?«
»Nee, interessiert
mich auch nicht«, antwortete der Angestellte unwirsch. »War’s das?«
Er rief Frauke
Dobermann an und berichtete, dass Senkbiel verschwunden war. Dann bat er darum,
dass sich ein Mitarbeiter der Hauptkommissarin darum bemühen sollte, den
Taxifahrer ausfindig zu machen.
»Gibt es Neues im
Entführungsfall?«
»Nein. Weder haben
sich die Täter gemeldet, noch haben wir weitere Spuren entdecken können«,
antwortete Frauke Dobermann. Ihre Stimme klang ein wenig müde. »Was haben Sie
jetzt vor?«
»Ich weiß es noch
nicht«, antwortete er ausweichend, weil er ihr nicht verraten wollte, dass er
den Landrat in Schleswig besuchen wollte.
In Schleswig
steuerte Lüder direkt die Kreisverwaltung an. Ein Paradebeispiel dafür, dass
der Norden nicht nur aus einer flachen Ebene bestand, war die Flensburger
Straße, der Sitz der Behörde. Sie führte vom Ufer der Schlei bergan. Hinter
einem mächtigen Baum versteckt lag an einer Straßenecke das alte Gebäude. Mit
dem roten Sockel und dem hellgrauen Putz, in Verbindung mit den kleinformatigen
Fenstern, mochte es in früheren Zeiten ein beeindruckendes Bild für den
bürgerlichen Untertanen abgegeben haben. Heute verdeckte es nur den komplexen
modernen Anbau aus roten Ziegeln, in dem die Ämter des Landkreises
untergebracht waren. Im Unterschied zu vielen anderen Verwaltungsgebäuden war
die Anlage aber gut strukturiert und machte einen gepflegten Eindruck.
Lüder schmunzelte,
als er in die »Windallee« abbiegen musste. Der Name passte zum Standort einer
öffentlichen Verwaltung, in der nach Meinung des Bürgers »viel Wind« produziert
wird. An der abwärtsführenden Nebenstraße befanden sich die Besucherparkplätze.
Bereitwillig gaben
ihm die Mitarbeiter der Behörde Auskunft, wo er das Büro des Landrats finden
würde. Aber das Vorzimmer erwies sich als zunächst unüberwindbares Hindernis.
»Mein Name ist
Kriminalrat Lüders vom LKA «,
stellte er sich mit Dienstgrad und Dienststelle vor. Es widerstrebte ihm, den
»Kriminalrat« zu nennen. Es war in Schleswig-Holstein unüblich,
Amtsbezeichnungen und Dienstgrade zu verwenden. Die Menschen ließen sich eher
durch das Auftreten und die Persönlichkeit ihres Gegenübers beeindrucken. Das
traf allerdings nicht auf die Verteidigerin des Zugangs zum Chef der
Kreisverwaltung zu.
»Der Herr Landrat
ist in einer wichtigen Besprechung, bei der ich ihn unmöglich stören kann. Soll
ich Ihnen einen Termin geben?«, fragte die resolute Frau mit dem zarten
schwarzen Flaum auf der Oberlippe.
Nachdem Lüder darauf
bestanden hatte, zu warten, zeigte sie mit einer Handbewegung auf einen
Holzstuhl und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Eine halbe Stunde später
waren Aufbruchgeräusche aus dem Nebenraum
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