Küstengold: Kriminalroman (German Edition)
eine neue Wohnung.
Im Gegensatz zu deinen ehemaligen Nachbarn bekommst du von dem Elend nichts mehr
mit.«
Stuhr fand
den Vorschlag asozial, obwohl er sehr bequem klang. Er beschloss, darüber nachzudenken.
Jetzt musste Olli zur Toilette. Stuhr schnappte sich die Sonntagszeitung. Entgegen
seinen sonstigen Gepflogenheiten stürzte er sich nicht auf die Sportseiten, sondern
blätterte sich vorsichtig von hinten zu den Promiseiten durch. VIPs, da war es.
Wieder gab
es eine Rubrik über das Strandleben in Sankt Peter, dieses Mal mit einem Foto von
dem umtriebigen V2 Schneider, der gemeinsam mit dem Kieler Ratsherrn Meyer einen
Oleg Korschunow von RusskiGaz umarmte. Küstengold im Wattenmeer, war das Bild untertitelt.
Die drei Investoren hatten einen Kontrakt unterzeichnet, um in einem Energiekonsortium
die Kohlendioxidspeicherung im Wattenmeer voranzubringen. Nach dem Abschalten der
Atomkraftwerke sollte mittels Pipelines die verschmutzte Abluft der konventionellen
Kraftwerke in riesige Depots unter der Nordsee verbracht werden. Als Vorteile wurden
saubere Luft und hohe Gewinne genannt, die zu neuen Investitionen an der Westküste
führen würden. Die möglichen Risiken wurden in dem Artikel allerdings nicht erwähnt.
Na ja, Stuhr
kannte Schneider nur zu gut. Zudem würde der Ratsherr Meyer auf seinen eigenen Vorteil
bedacht sein, wenn man Verena glauben konnte. Stuhr betrachtete das Bild genauer.
Am Rand war tatsächlich noch ein gelber Stiefel von ihr zu erkennen. Wie es ihr
wohl ergangen war? Seine Flucht aus der Toilette des Hotels Ambassador war für ihn
die letzte Möglichkeit gewesen, nicht wieder aus dem Ruder zu laufen und in die
falsche Spur zu geraten.
Sein gelber
Frauenroman. Wo war der nur geblieben?
Olli kam
von der Toilette zurück und schnappte ihm die Zeitung weg. »Die hatte ich zuletzt
gelesen.«
Stuhr schüttelte
verständnislos den Kopf, aber ihm fiel wieder ein, dass er den gelben Frauenroman
im Handschuhfach seines Golfs deponiert hatte.
Stuhr stand
auf und stellte das Radio an. Im Programm lief eine dieser unsäglichen Ratesendungen,
die nicht nur Programmquote, sondern vor allem Telefongelder einbringen sollen.
»Jeder Anruf nur 50 Cent aus dem Festnetz, mobil kann es ein wenig mehr sein«, nervte
der Radiosprecher.
Klar, dachte
sich Stuhr, da wird die Geldschraube dann richtig hochgedreht. Am besten, er würde
überhaupt nicht hinhören.
Das Spiel
war schlicht gestrickt, und die Dämlichkeit der Hörer war kaum zu ertragen. Der
Radiosprecher sagte ein Wort, und die Hörer mussten jeweils ein zweites anhängen.
»Haus«,
gab der Moderator vor. »Garten«, quäkte es prompt aus dem Radio.
Stuhr fand
es nicht lustig, mit einem dicken Kopf dieses hirnlose Ratespiel zu verfolgen. Hausgarten
tat schon weh. Aber Stuhr fühlte sich zu schlapp, um zum Radio zu gehen und einen
anderen Sender zu wählen. Olli schien es sowieso nicht zu jucken.
So ging
es weiter. »Garten-zwerg. Zwergen-hand, Hand-granate. Granat-apfel. Apfel-kern.
Kern-.«
Stuhr konnte
jetzt ein wenig die Spannung fühlen, welche die anwachsende Stille im Radio erzeugte.
Ein Knistern erzeugte sie nicht, aber Schadenfreude. Der zugeschaltete Hörer konnte
offensichtlich nicht mehr mithalten, er würde leer ausgehen.
»Kraft«,
brummelte Olli vor sich hin. Stuhr blickte verstört auf die Zeitung, hinter der
sich Olli versteckte. »Wie Kraft?«
»Der Hörer
ist nur blöd, Stuhr. Kern-kraft.«
»Kernkraft?«
Stuhr schlug mit der Faust auf den Umzugskarton, dass die Kaffeebecher schepperten.
Kernkraft! Das war es. Brokdorf war das letzte noch betriebene Atomkraftwerk in
Schleswig-Holstein. Während der Bauphase hatte es heftige Proteste von Atomkraftgegnern
gegeben.
Brokdorf.
Stuhr war elektrisiert. Hunderttausende hatten seinerzeit in diesem kleinen Ort
in der Elbmarsch zwischen Hamburg und Brunsbüttel gegen die Atomkraft demonstriert,
und er war einer von ihnen gewesen. Vor allem die Bilder der Gewalt waren ihm im
Gedächtnis geblieben: Wasserwerfer gegen Demonstranten und Stahlkugeln gegen Polizisten.
Die ganze
Republik war in den 70ern in der Frage gespalten, ob Atomkraftwerke umweltschonende
und günstige Energieerzeuger seien oder ob sich ein ganzes Volk damit verstrahlte.
Nach dem Unglück von Tschernobyl genossen atomare Kraftwerke bei der deutschen Bevölkerung
keinen hohen Stellenwert mehr, und nach der Katastrophe in Fukushima mussten die
Atomkraftwerke in Krümmel und Brunsbüttel abgeschaltet werden.
Die
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