Kullmann
müssen wir Steven Dienhardt finden. Er ist unser Hauptverdächtiger im Fall der Polizistenmorde und gefährlich, er könnte unseren Plan durchkreuzen. Sie warten also auf meine Anweisungen und tun nichts auf eigene Faust!«
»Klar. Sie können sich auf mich verlassen«, beteuerte Anke.
Kaum hatten sie Marthas Kneipe verlassen, begann es zu donnern und zu blitzen. Innerhalb von Sekunden setzte ein Platzregen ein, der die beiden durchnässte. Schnell suchten sie Schutz unter einer leuchtend roten Markise und warteten, bis der Schauer nachließ.
»So wollte ich das Gewitter auch nicht haben«, murrte Kullmann, zog seine Jacke aus und drehte sie aus wie einen Putzlappen. Auch Ankes Kleider waren durchnässt. Sie empfand es als sehr angenehm. So konnte sie die schwüle Hitze viel besser ertragen. Als der Regen nachließ, setzten sie ihren Weg zum Landeskriminalamt fort. Wie zwei begossene Pudel kamen sie dort an.
»Gut schaut ihr aus«, lachte Jürgen, als er die beiden kommen sah. Die Freude war allerdings einseitig, weil keiner in sein Lachen einstimmen konnte.
»Von Steven Dienhardt gibt es immer noch nichts Neues. Ich habe inzwischen alle Krankenhäuser angerufen, aber er ist nirgends eingeliefert worden. Es fehlte mir gerade noch, dass der Notdienst vom Krankenhaus mir aufzählen wollte, wann der Junge nach Schlägereien bei ihnen behandelt worden ist, aber das hat mich nicht interessiert. Wir müssen erfahren, wo er jetzt ist, und nicht, wo er vor einem halben Jahr war.« Mit diesen Worten verschwand Jürgen wieder, doch Kullmann rief ihn wieder zurück: »In welchem Krankenhaus ist er behandelt worden?«
»Im Winterberg-Krankenhaus«, antwortete Jürgen verwundert über diese Frage. »Liegt doch nahe, schließlich wohnt er um die Ecke!«
Kullmann verschwand in seinem Büro.
Anke zog sich ebenfalls zurück und begann, verschiedene Berichte zu schreiben, die schon länger darauf warteten, endlich fertiggestellt zu werden. Da sie nun sozusagen auf Abruf war, musste sie etwas tun, um die Zeit totzuschlagen. Aber in ihr brodelte es vor Aufregung und Erwartung.
Nach einer Weile verließ Kullmann das Gebäude, und wenige Sekunden später klopfte es an ihrer Tür. Ankes Herz schlug bis zum Hals, weil sie befürchtete, dass Esche wieder etwas von ihr wollte. Sie rief auch nicht herein, sondern hielt nur die Luft an, bis die Tür sich langsam öffnete und Erik Tenes hereinschaute. Erleichtert atmete sie wieder aus und meinte: »Ach, Sie sind’s! Kommen Sie rein!«
Er schloss die Tür hinter sich und blieb unbeholfen im Zimmer stehen.
»Setzen Sie sich doch«, forderte Anke auf, aber er schüttelte den Kopf und meinte: »Danke, ich bleibe lieber stehen.«
Anke zuckte nur die Schultern und schaute auf den großen Mann, wie er da vor ihr stand und den Eindruck machte, als wüsste er nicht, warum er in ihr Zimmer gekommen war. Mit seinen blonden Haaren, seiner tief gebräunten Haut und seinem muskulösen Körper erinnerte er sie an den Barbie-Puppen-Mann namens Ken. Als Kind hatte sie immer mit Barbie-Puppen gespielt und mit den Puppen in der Hand Gespräche geführt. Lange Zeit waren das die einzigen Gespräche gewesen, weil ihre Eltern nie Zeit für sie hatten. Ihr Vater war beruflich im Ausland unterwegs, und ihre Mutter musste zuhause bleiben, weil sie ein Kind hatte. Immerzu kam sie sich als ein Störfaktor vor; ihre Existenz hinderte die Mutter daran, den Vater auf seinen Reisen zu begleiten. Erst als sie älter wurde, hatte ihre Mutter sich nicht mehr die Mühe gemacht, bei ihrer Tochter zu bleiben. Von da an begleitete sie ihren Mann überall hin und wirkte viel glücklicher und zufriedener. Den Kontakt zum Elternhaus hatte Anke abgebrochen. Jede Unterhaltung mit ihren Eltern empfand sie als aufgezwungen, so als wäre es ihre Pflicht, mit ihnen weiterhin heile Welt zu spielen, die sie niemals hatten.
Während sie darüber nachdachte und den schweigsamen Eisklotz vor sich sah, spürte sie es wieder ganz genau. Seine Unzugänglichkeit und seine Distanziertheit versetzten sie in ihre trostlose Kindheit. Sie hatte ein Bett voller Puppen und Plüschbären in allen Größen, aber nie ein gutes Wort oder eine streichelnde Hand gehabt, die ihr in all den Jahren das Gefühl gab, geliebt zu sein. Das Einzige, was sie sich für ihr zukünftiges Leben wünschte, war Geborgenheit an der Seite eines Menschen, der sie liebte. Und was hatte sie getan? Plötzlich wurde ihr ganz elend zumute, als habe sie sich einen
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