Kullmann
spürte noch nicht einmal, dass sie existierte. Doch mit den Sekunden, die verstrichen, erwachten ihre Gefühle immer mehr. Sie sah seine schemenhafte Gestalt, die sich entfernte, nicht nur von ihrem Standpunkt, sondern aus ihrem Leben.
Siedend heiß fiel ihr ein, welchen entscheidenden Fehler sie gemacht hatte. Ehrlich und offen wollte sie sein, aber es war ihr nicht gelungen. Sie hatte sich nicht bei ihm entschuldigt für den Verdacht gegen ihn, hatte das Wichtigste vergessen. Deshalb hatte ihr ganzes Bitten nichts genützt. Diese Erkenntnis schoss durch sie hindurch und hinterließ das Gefühl der Niedergeschlagenheit. Völlig unbeweglich stand sie da, regungslos, wie gelähmt. Nichts an ihr konnte sie bewegen, nichts. Eine Gefühlsmischung wie grauer Einheitsbrei machte sich in ihrem Kopf breit, dass sie glaubte, er müsste unter dem Druck in tausend Teile zerspringen. Die Gedanken, diese Selbstvorwürfe, dass sie sich alles selbst zuzuschreiben hatte, quälten sie. Sie war selbst daran schuld. Sie hatte sich genau das zerstört, wonach sie sich so sehr gesehnt hatte. Kurze Zeit hatte sie das Glück in ihren Händen gehalten, das die Erfüllung ihres Traums hätte sein können. Sie hatte versagt, war unfähig gewesen, dieses Geschenk zu pflegen und zu bewahren. Unwillkürlich tauchte die Frage in ihr auf: Hätte sie einen Menschen ertragen, der sie selbst so schwer angeschuldigt hätte? Vermutlich nicht! Deshalb durfte sie Roberts Reaktion nicht verurteilen.
Es dauerte lange, bis sie sich aufraffte, zum Stall zurückzugehen. Ganz langsam kehrte ihr Geist in die Gegenwart zurück; wie mechanisch bewegte sie sich auf den Stall zu.
Ihr Kopf arbeitete in Zeitlupe. Ihr Blick verengte sich auf Rondo, ein Ausritt mit ihm als Strohhalm, als Rettung. Wie eine Verliererin schlich sie auf die Box zu. Rondo reagierte sofort. Fragend schaute er ihr entgegen und brummelte so leise, dass es schon fast nicht zu hören war. Trotzdem erkannte Anke in diesem Verhalten, dass er auf sie gewartet hatte. Wieder staunte Anke, wie feinfühlig dieses Pferd doch sein konnte. Auf keinen Fall wollte sie ihn als Wundpflaster missbrauchen, sie wollte gut auf sich aufpassen und das Pferd schonen.
»Du wirst mir jetzt helfen, indem wir beide einen Ausritt machen«, sprach Anke leise zu ihrem geliebten Pferd.
In aller Ruhe sattelte und trenste sie ihn, während um sie herum der Betrieb zunahm. Die Schulpferde wurden von den Kindern geputzt, Privatpferdehalter hatten ebenfalls ihre Pferde im Sonnenschein stehen, und Geplapper schallte über den Hof und über den Reitplatz. Bellende Hunde mischten sich in dieses Treiben. Die Terrasse der Reiterklause war inzwischen auch geöffnet und einige Pferdebesitzer, die ihre Pferde auf die Koppel gestellt hatten, saßen jetzt dort und tranken ein frisch gezapftes Bier. Ihr Lachen schallte über den ganzen Hof.
Als Anke Rondo in den Hof führte, wo sie aufsteigen wollte, sah sie gerade, wie Robert und Doris Arm in Arm zu seinem Wagen schlenderten. Bis zur Beifahrertür gingen sie eng umschlungen. Bevor Doris sich aus seiner Umarmung löste, küssten sie sich leidenschaftlich. Ganz ohne Hast öffnete er ihr die Tür, ließ sie einsteigen und ging um den Wagen herum zur Fahrertür. Als er Anke erblickte, blieb er eine Sekunde stehen und schaute sie an. Sogar auf diese Entfernung konnte Anke seine blauen Augen erkennen. Sie waren für sie gestorben. Er stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
Schwermütig stieg Anke in den Sattel. Sie versprach sich von der Stille des Waldes, in die sie nun reiten wollte, Abstand zu gewinnen. Das hatte sie bitter nötig. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, kam Nadja zusammen mit der Vereinsvorsitzenden auf sie zugelaufen, und rief: »Warte bitte einen Moment!«
Anke wartete ungehalten, bis die beiden außer Atem bei ihr angekommen waren.
»Ich habe heute Morgen in der Zeitung gelesen, dass ihr den Polizistenmörder verhaftet habt. Stimmt das?«, fragte nun die Vereinsvorsitzende etwas ruhiger.
»Ja, das stimmt!«
»Stimmt es auch, dass es jemand von deinen Kollegen war?«
Anke nickte. Sie spürte, wie unangenehm ihr das Gespräch war, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Die beiden hatten nichts gefragt, worauf sie nicht hätte antworten dürfen.
»Gott sei Dank! Dann ist Robert endlich aus dem Schneider«, meinte sie erleichtert. »Ich hatte sowieso keine Sekunde geglaubt, dass Robert damit was zu tun hatte. Dafür ist er einfach nicht der Typ. Er hat das
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