Kullmann
Anrufer hatte eine Nachricht auf der Mail-Box hinterlassen. Das konnte sie sich auch noch anhören, wenn sie sich besser fühlte, dachte Anke und gab Rondo ein Zeichen, dass er weitergehen sollte. Gehorsam setzte das große Tier sich in Bewegung, im ruhigen Schritt traten sie den Rückweg an.
Langsam wurde es dunkler und Wind frischte auf. Die hohen Baumkronen wiegten sich im Wind. Alte, morsche Baumstämme ächzten und polterten unter der Last, als stimmten sie mit ihren disharmonischen Lauten in das quälende Stimmengewirr in ihrem Kopf ein. Die Dunkelheit schritt schneller voran, Anke konnte nur mit Mühe den Weg erkennen. Rondo wurde nervöser. Hinter jeder Hecke und jedem Baumstamm schienen ihm schlimme Gefahren aufzulauern. Auch Anke sah überall Schatten. Sie verlor etwas den Überblick. Ob sich wirklich unheimliche Gestalten dort bewegten oder ob sie ihrer Fantasie entsprangen? Sie spürte die Anspannung des Pferdes ganz deutlich. Rondos Rücken war bretthart angespannt. Laut stieß er die Luft aus den Nüstern, wölbte seinen starken Hals, dass er noch kräftiger aussah. Er schaute immerzu von der einen zur anderen Seite, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Beim geringsten Geräusch begann er zu tänzeln, wobei er so viel Schwung entwickelte, dass Anke große Not hatte, nicht aus dem Sattel zu fliegen. Zu ihrer Erleichterung machte er keine Anstalten, einfach wegzurennen. Auf ihre ruhige Stimme reagierte er. Trotz seiner großen Angst ließ er sich immer wieder besänftigen.
Als sie durch die letzten Baumreihen den hellerleuchteten Stall sah, atmete Anke erleichtert auf. Ihre Anspannung drohte sie zu zerreißen, zum Glück hatte Rondo gute Nerven bewiesen und sie sicher zurückgebracht.
Der Ostwind wurde stärker.
Nur noch eine Pferdebesitzerin und ihre Mutter waren am Stall. Anke war nicht ganz allein.
Mit aller Sorgfalt putzte sie Rondos verschwitztes Fell, säuberte seine Hufe und pflegte sie mit Huffett. Anschließend führte sie ihn in seine Box, wo seine Futterration vom Abend noch auf ihn wartete. Während Anke ihre Putzutensilien, den Sattel und die Trense säuberte und wegräumte, kamen Mutter und Tochter bei ihr vorbei und meinten: »Wir haben heute Morgen in den Nachrichten gehört, dass ihr den Polizistenmörder festgenommen habt!«
»Ja, endlich ist es vorbei. Jetzt habe ich viel mehr Zeit, mich um Rondo zu kümmern«, lachte Anke.
»Das glaube ich gern. In letzter Zeit haben wir dich hier nicht oft gesehen«, sagte die Mutter.
Mutter und Tochter verabschiedeten sich und ließen Anke allein zurück. Der Letzte hatte die Aufgabe, alle Stalltüren abzusperren, aber damit wollte sie sich noch Zeit lassen. Lieber ging sie noch einmal zu Rondos Box. Er war immer noch mit Fressen beschäftigt und bemerkte sie kaum. Also öffnete sie die Box, ging hinein und setzte sich auf den mit Stroh ausgelegten Boden, um von dort das Tier beobachten zu können. Im Schein der Neonröhren glänzte sein rotes Fell wie Perlmutt. Während sie zu ihm hinaufschaute, stiegen traumartige Bilder auf. Sie sah sich glücklich und verliebt über Felder und Wiesen galoppieren. Der Fuchswallach streckte sich kraftvoll unter ihr und lief so schnell, dass Anke das Gefühl hatte, über der Erde zu schweben. Neben ihr sah sie Robert auf Nepomuk, der genauso schnell ritt wie sie mit Rondo. Robert streckte seine Hand nach ihr aus, glückselig griff sie danach.
Plötzlich ging das Licht im Stall aus.
*
Obwohl Kullmann in dieser Nacht wenig geschlafen hatte, fühlte er sich hellwach, als er an diesem Morgen das Büro betrat. Für heute waren die Verhöre von Kurt Spengler und Horst Esche angesetzt. Die Gewissheit, Kurt Spengler des Mordes an seiner Frau überführen zu können, hob seine Laune mächtig an.
In der Nacht hatte die Spurensicherung noch die Häuser der beiden Verdächtigen durchsucht und tatsächlich bei Esche den entscheidenden Beweis gefunden, den Nimmsgern wahrscheinlich an seinem Todestag bei sich getragen hatte. Warum der Kollege die Fingerabdruckkarte nicht im Labor hinterlegt hatte und sie von den Kollegen in das AFIS-System einspeisen ließ, würde Kullmann nie mehr erfahren. Nur durch dieses eigenmächtige Handeln hatte es fast ein Jahr gedauert, bis er endlich auf gesicherter Grundlage gegen Kurt Spengler vorgehen konnte. Es war seiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass der Fall niemals als Unfall mit Todesfolge in einer Akte verstaubte, weil Kullmann eine alte Pflicht zu erfüllen hatte. Luises
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