Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
Schnitt:
Letzte Woche. Ich war mit dem harten Kern der Creative Writing
Group in einem Intercity 125 unterwegs nach London zu einer Lesung
der ICA (Kathy Acker, Martin Millar etc.). Ich saß Mo
gegenüber – er ist ein gutaussehenden Inder mit einem
Schnauzbart, ein sehr kluger Kopf; er hatte uns gewählt anstatt
Oxbridge; Gott mag wissen warum – und kippte den Inhalt einer
Mikroflasche Magenbitter in einen Plastikbecher und holte das Buch
hervor, das ich lesen wollte, und Mo… straffte sich, um es
schlicht auszudrücken. Ich halte nicht allzuviel von
Körpersprache; mir entgeht etliches, das weiß ich (siehst
du – ich höre auf das, was du sagst), aber es war, als ob
Mo plötzlich zur Eisstatue erstarrt wäre, und die Wellen
der Feindseligkeit schwappten über den Tisch zu mir
herüber. Die anderen merkten es ebenfalls und verstummten.
Ich hatte nämlich Die Satanischen Verse von Salman
Rushdie aus meinem Tagesgepäck genommen, verstehst du? Und Mo
saß da, als ob er erwartete, daß das Buch in meinen
Händen anfangen würde zu blubbern und zu zucken und in
Flammen aufzugehen.
Nun, ich weiß nicht, wieviel du von dem ganzen Theater
gehört hast, das um das Buch gemacht wird – die
Angelegenheit hat bis jetzt noch keine Schlagzeilen auf den
Titelseiten gemacht, und mit etwas Glück wird es dazu auch in
Zukunft nicht kommen – doch seit seiner Veröffentlichung
haben etliche Moslems gefordert, daß es verboten oder
eingestampft werden soll oder was auch immer, denn es enthält
– so behaupten sie – einiges sozusagen halb-blasphemisches
Material bezüglich des Koran. Ich hatte über dieses
allgemeine Gebiet der schriftstellerischen Freiheit und der
religiösen Zensur in einigen Vorlesungen gesprochen, ohne den
Roman bisher gelesen zu haben, und ich wäre nie auf den Gedanken
gekommen, daß jemand wie Mo – der in keiner dieser
Vorlesungen gewesen war – auf der Seite der Bösen stehen
könnte.
»Mo, stimmt was nicht?«
»Das ist kein gutes Buch, Mr. Munro«, sagte er und sah
dabei das Buch an und nicht mich. »Es ist schlecht,
blasphemisch.« (Verlegenes Schweigen bei den anderen.)
»Hör zu, Mo, ich werde das Buch weglegen, wenn es dich
beleidigt«, sagte ich zu ihm (und tat, was ich sagte).
»Aber ich glaube, wir müssen darüber sprechen. Nun
gut, ich selbst habe das Buch bisher noch nicht gelesen, aber ich
habe neulich mit Dr. Metcalf darüber gesprochen, und der sagte,
daß er es gelesen habe und daß die Passagen, gegen die
manche Leute so heftige Einwände erheben, höchstens ein
paar Seiten umfassen, und daß er nicht verstünde, warum
deshalb so ein Aufhebens gemacht wird. Ich meine, es ist ein Roman,
Mo. Es ist kein… religiöses Traktat; es will als fiktiv
verstanden wissen.«
»Darum geht es nicht, Mr. Munro«, entgegnete Mo. Er
starrte meinen kleinen roten Rucksack an, als ob er eine Atombombe
enthielte. »Rushdie hat alle Moslems beleidigt. Er hat jedem
einzelnen von uns ins Gesicht gespuckt. Es ist genauso, als ob er
alle unsere Mütter als Huren bezeichnet hätte.«
»Mo!« sagte ich und konnte ein Grinsen nicht verbergen,
während ich den Rucksack auf dem Boden absetzte. »Es ist
nur eine Erzählung.«
»Die Form ist nicht wichtig. Es ist ein Werk, in dem Allah
beleidigt wird«, entgegnete Mo. »Sie können das nicht
verstehen, Mr. Munro. Für Sie ist nichts in gleichem Maße
heilig.«
»Ach nein? Wie ist es mit dem Recht auf
Redefreiheit?«
»Aber als die Nationale Front sich der Studentenvereinigung
für ihre Zwecke bedienen wollte, waren Sie mit uns bei der
Demonstration dagegen, oder nicht? Was ist also mir deren Recht auf
Redefreiheit?« konterte er.
»Sie wollen es allen anderen verwehren; komm jetzt, Mo! Ihnen
wird nicht das Recht auf Redefreiheit genommen, man schützt
vielmehr die Rechte und Freiheiten jener Leute, die von denen
schikaniert würden, sobald ihnen etwas Macht gewährt
würde.«
»Aber unmittelbar wirkt sich das doch so aus, daß man
denen das Recht verweigert, ihren Standpunkt öffentlich
darzustellen, oder etwa nicht?«
»Auf die gleiche Weise, wie man jemandem das Recht verwehrt,
einem anderen Menschen die Pistole an die Schläfe zu setzen und
abzudrücken. Ja«, erwiderte ich.
»Es ist also klar, daß Ihr Glaube an die Freiheit
allgemein eine spezielle Freiheit zunichte machen kann;
solche Freiheiten sind nichts Absolutes. Ihnen ist nichts heilig, Mr.
Munro. Sie stützen ihren Glauben auf die Produkte menschlichen
Denkens, deshalb kann es auch
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