Kultur für Banausen - alles was Sie wissen müssen, um mitreden zu können
in fremde Welten, in unbekannte Milieus, in vergangene oder zukünftige Zeiten. Sie erlaubt einen überraschenden Blick auf Vertrautes, führt zu neuen Ideen und Sichtweisen. Sie lässt in die Seele von anderen Menschen blicken und auch in ihre Abgründe. Fest steht, dass man sich für keinen Roman, den man gerne liest, schämen muss.
Viele Menschen machen mit Literatur eine ähnliche Erfahrung wie mit Wein. Jahrelang gibt man sich mit irgendeinem Discounter-Wein zufrieden, der von mäßiger Qualität ist. Eines Tages entdeckt man dann einen besseren, teureren Wein, genießt – und wird überrascht von der Vielfalt des Geschmacks. Hat man sich einmal daran gewöhnt, schmeckt einem plötzlich die Plörre von gestern nicht mehr, und man beginnt, selbst bei günstigen Weinen auf Qualität zu achten. Mit anderen Worten: Wenn man in seine Lektüre hin und wieder ein Buch einstreut, das als anspruchsvoll gilt, muss man danach nicht gleich für alle Zeiten von Thrillern, Krimis und historischen Romanen Abschied nehmen. Im Gegenteil, man lernt, auch in diesen Genres gute und schlechte Bücher besser zu unterscheiden.
Was macht gute Literatur aus?
Während man in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen sowie auf speziellen Seiten im Internet professionelle Literaturkritiken findet, kommentieren bei Online-Buchhändlern oder auf privaten Internetseiten Laien, wie ihnen ein Buch gefallen hat. Bei sehr populären Romanen geben oft hunderte von Lesern ihr Urteil ab. Nicht immer erweist sich diese Fülle als hilfreich. Ein Thriller eines amerikanischen Topautors erhielt zum Beispiel kürzlich auf der Webseite eines Online-Buchhändlers von den Lesern ebenso oft die höchste zu vergebende Punktzahl wie auch nur einen Punkt. Als Ratsuchender sind Sie bei einem solchen Urteil »so klug als wie zuvor«. In diesen Fällen ist es gut zu wissen, worauf man achten muss, um die Qualität von Literatur zu beurteilen.
Vier Kriterien, woran man gute Literatur erkennt:
1. die Sprache. »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen«, so lauten die ersten Sätze von Franz Kafkas (1883–1924) meisterhafter Erzählung »Die Verwandlung«. Von Kafka ist bekannt, dass er mit großer Akribie an seinen Formulierungen arbeitete. Niemals war er zufrieden. Er strich, ergänzte, schrieb neu. Trotzdem wies er in seinem Testament seinen Freund Max Brod an, alle seine Manuskripte zu verbrennen, weil er die Texte für nicht gut genug befand. Zum Glück für die Literatur hielt sich Brod nicht an die Anweisung. Beachten Sie, wie präzise Kafka den Bauch des Ungeziefers beschreibt! Gute Literatur zeichnet aus, dass der Autor um das treffendere Wort, die originellere Metapher, die genauere Beschreibung ringt.
2. die Charaktere. In Wirklichkeit ist kein Mensch abgrundtief böse oder ausschließlich gut und edel. Wir leben in einer Welt aus Licht und Schatten. Menschen wandeln sich, sie haben vielschichtige Motive für ihr Handeln und agieren voller Widersprüche. In der dramatischen Literatur ist Shakespeares Hamlet der Prototyp einer solchen zerrissenen Figur. In Heinrich von Kleists (1777–1811) Novelle »Michael Kohlhaas« begleiten wir einen ehrlichen Menschen, dem Unrecht widerfahren ist. Zu Beginn stehen wir bei seinem Eintreten für Gerechtigkeit auf seiner Seite. Je verbissener er jedoch vorgeht, desto unsympathischer wird uns dieser Kohlhaas. Wir beobachten, wie er sich vom Gerechtigkeitssuchenden zum Gerechtigkeitsfanatiker wandelt, vom rechtschaffenen Kaufmann zum Mordbrenner. Gute Literatur lässt uns diese Vielschichtigkeit menschlichen Wesens verstehen.
3. die Handlung. Das Kriterium der Handlung ist nicht ganz unproblematisch. Moderne und postmoderne Literatur verzichtet vollständig auf Handlung, zumindest durchbricht sie in vielen Fällen den Handlungsstrang. Sie erzählt nicht linear, sondern fragmentarisch, das heißt, sie setzt ein Bild aus vielen kleinen Szenen zusammen. Manchmal sieht es so aus, als habe der Autor aufgeschrieben, was ihm gerade in den Sinn gekommen ist.
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