Kumpeltod: Nachtigalls achter Fall (German Edition)
von einem Schwindler, Betrüger und Fantasten soll man stehen lassen‹,
waren die Worte meines Vaters. Der ist nun auch schon seit fünf Jahren tot.«
»Und sonst?
Du warst doch nicht jeden Tag bei Karl May, oder?«, wechselte Helene
entschlossen das Thema. Ihre Eltern lebten schon lang nicht mehr und sie war
der Meinung, Gitti sei wirklich alt genug, um ihr Leben allein zu meistern. Mit
Anfang 50 sollte man doch wenigstens das geschafft haben, dachte sie
unfreundlich, schließlich war man länger tot als lebendig, nüchtern betrachtet.
Ihr fiel ein, dass sie vor einiger Zeit einen Satz von Renard gelesen hatte,
der auch gesagt hatte, das Leben würde überschätzt.
»Wo
denkst du hin! Ganz sicher nicht. Ich habe auch noch andere Hobbys. Deshalb bin
ich nach Freyburg gefahren«, kicherte Gitti, legte sich ein Handtuch zurecht,
kramte nach dem Duschbad.
»Freyburg?
Ich ahne es! Du warst bei Rotkäppchen?«
»Genau.
Wenn ich schon mal so ungefähr in die Gegend komme, gucke ich mir an, wo mein
Lieblingssekt kreiert wird.«
»Und,
hast du es gesehen?«, fragte Helene skeptisch.
»Die
Dame, die uns geführt hat, war wirklich nett. Besonders beeindruckt hat mich
das riesige Cuveé-Fass, in dem man früher die Weine vermischt und den typischen
Geschmack erzeugt hat. Mann! Riesig. Rotkäppchen stellt heute noch Sekt im
Champagnerverfahren her! Lecker!«
»Ja,
den kenne ich. Der hat allerdings ein goldenes Käppchen!«, lachte Helene und
zerrte an ihrem T-Shirt, um es über dem Busen geradezurücken.
»Genau.
Da wird jede Flasche täglich gerüttelt. Ein ziemlicher Aufwand, den der Kunde
dann eben auch bezahlen muss. Außerdem ist der limitiert.« Gitti warf ihr
grell-pinkfarbenes Sportshirt in die Tasche und begann an ihrem BH
herumzunesteln. »Aber richtig gut war das Degorgieren. Gefährliche Sache, dabei
kann dir dann schon mal der Korken um die Ohren fliegen oder die ganze Flasche
explodieren. Aber die Leute werden es wohl beherrschen. Der dicke Korken wird
dann mit Druck in den Hals der Flasche gepresst. Ein bisschen enttäuscht war
ich darüber, dass das meiste in Tankgärung hergestellt wird.« Sie verzog das
Gesicht.
»Tankgärung?
Aha. Klingt jetzt nicht unbedingt nach Romantik und Fantasie aus 1.000 Perlen,
oder?«
»Nein,
wirklich nicht. Deshalb sagen sie das auch keinem. Die großen Stahltanks hat
man uns deshalb wohl auch erst gar nicht gezeigt.« Gittis Lachen war wieder
zurück. Sie warf den Kopf in den Nacken. »Mir ist es egal. Er schmeckt mir auch
aus dem Tank. Und das Geld für eine Flasche mit goldenem Käppchen muss man erst
mal haben. Das geht nicht für jeden Abend! Eine von den tollen Flaschen für
irgendeine besondere Gelegenheit im Schrank zu haben, reicht mir völlig.«
»Heute
ist auch der teure Rotkäppchen immerhin bezahlbar. Wenn auch nur zu speziellen
Anlässen. Aber das war nicht immer so. 1923 zum Beispiel hat eine Flasche zwei
Millionen Mark gekostet«, erklärte Helene. »Das konnte sich so gut wie niemand
leisten und in den wirtschaftlich unsicheren Zeiten wollte das wohl auch
keiner.«
Gitti
hatte es inzwischen geschafft den BH loszuwerden und schlüpfte aus dem Slip.
»Meine Großmutter erzählte immer, zu Zeiten der Inflation habe sie mit einem
Handwagen am Tor gewartet, damit Opa seinen Lohn gleich bei ihr abgeben konnte.
Das war so viel Geld, dass man es unter dem Arm nicht wegtragen konnte. Das
Geld wurde sofort in Nahrungsmittel umgesetzt, weil es am Abend manchmal nur
noch die Hälfte wert war.«
»Zum
Glück hat ja bei uns nicht einmal die letzte Krise solche Verhältnisse
heraufbeschworen«, Helene band mit einem letzten energischen Zug die
Schnürbänder zu. »Ich gehe jetzt hoch. Sport ist angesagt!«
»Und
ich husche unter die Dusche. Bei mir ist nämlich noch Vergnügen angesagt! Ich
gehe in die Stadt. Bin verabredet«, verriet Gitti zwinkernd und warf kokett den
Kopf zurück.
»Im
Lauterbach? Mit einer vielversprechenden Erscheinung?«
»Klar.
Nur!«
Die
beiden nickten sich zu.
Gitti
verschwand durch die Tür in den Nassbereich.
Helene,
die ihre Mitgliedskarte vergessen hatte, schloss ihren Spind noch einmal auf.
»Igitt,
was läuft da aus dem Schrank?«, hörte sie Gitti murmeln. »Haarshampoo? Rosa.
Wahrscheinlich mit Rosenduft.«
Helene
hatte ihre Karte gefunden und wollte gerade den Umkleidebereich verlassen, da
ertönte ein gellender Schrei!
»Gitti?
Ist dir was passiert?«
Die
Freundin stürmte zu den Duschen und wäre um ein Haar mit ihrer
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