Kumpeltod: Nachtigalls achter Fall (German Edition)
sich entfremdet, warum ist nicht klar. Hätte der Sohn Probleme
gehabt, wäre der Vater nicht die Anlaufstelle gewesen. Ein gemeinsames
Geheimnis halten wir für ausgesprochen unwahrscheinlich, aber möglich. Silke
wird bei Heiner Lombards Hausarzt nachfragen. Vielleicht weiß der Bescheid.«
»Wieder
Silke?«
»Ja.
Bei Gelegenheit schicke ich sie dir bei einem Obduktionstermin vorbei, damit du
sie kennenlernen kannst«, versprach Nachtigall und hätte unter anderen
Umständen bestimmt gegrinst. Aber so unmittelbar neben dem Tod war ihm danach
nicht zumute.
Der
Rechtsmediziner gab dem zweiten Obduzenten ein Zeichen und setzte das Messer
unter dem Kinn an. Das Knirschen des aufgetrennten Gewebes verursachte dem
Hauptkommissar eine Gänsehaut. Ein rascher Seitenblick auf den Staatsanwalt
zeigte ihm, dass der unter seiner Solariumsbräune leicht grünlich schimmerte.
Was wollte er eigentlich hier? Wieder eine Begegnung mit neugierigen
Journalisten, denen er nicht sprachlos gegenübertreten wollte? Und dann fiel es
ihm wieder ein. Klar. Die Abbaggerungsgegner planten sicher wieder eine
Kundgebung. Da war es gut zu wissen, woran John gestorben war. Der Schnaps
schied, zumindest als direkt ursächlich, schon mal aus.
Lange
Zeit später klappte Dr. Pankratz Johns Skalp über die Stirn und griff nach der
winzigen Kreissäge, die das Schädeldach abtrennen würde.
»Weißt
du, Peter, in der Medizin ist das ein ganz übliches Verfahren. Bei
Hirndrucksymptomatik zum Beispiel. Sei es jetzt wegen einer Blutung durch einen
Schlag auf den Kopf oder Druckanstieg aus anderen Gründen. Man sägt das Dach ab
und friert es ein. Wenn der Druck sich normalisiert hat, taut man den Knochen
auf und setzt ihn wieder passgenau ein. Keiner sieht das später.«
»Und in
der Zwischenzeit? Der Patient kann doch nicht mit offenem Schädel rumlaufen«,
fragte Nachtigall leicht schrill.
»Nein.
Natürlich nicht. Er trägt übergangsweise einen Helm, der das Hirn schützt.«
Ach ja,
ein Helm, natürlich!, dachte Nachtigall gereizt, was frage ich auch.
»So,
hier ist das Schädeldach.« Der Rechtsmediziner präsentierte den medizinischen
Laien die knöcherne Schale. Aus dem Augenwinkel beobachtete der Hauptkommissar,
wie der Sektionsassistent das Hirn aus dem Kopf schälte. »Und hier, siehst du,
hier kann man sogar die Bahn erkennen, die das Geschoss genommen hat. Diese
Kratzer stammen vom Projektil. Das bedeutet, es konnte eindringen, hatte aber
nicht genug Durchschlagskraft, um auf der anderen Seite des Schädels nach außen
zu gelangen. Gefangen im Kopf kreiselte es am Knochen entlang, bis es dann in
der Hirnsubstanz gefangen wurde und liegen blieb. Kreisel- oder Trudelschuss.«
Eine
Tür fiel scheppernd zu.
Dr.
März hatte die Gruppe grußlos verlassen.
20
»Und, wie war dein Urlaub?«,
wollte Helene von ihrer Sportfreundin wissen.
»Toll!
Ach weißt du, dieser Karl May hatte es irgendwie gut – trotz
all der Anfeindungen. Vorbestraft war er zu allem Überfluss auch noch. Aber
wenn dem die Leute in seiner Umgebung auf die Nerven gingen, zückte der Papier
und Stift und schrieb sich einfach in eine andere Welt. Eine, in der
zuverlässig das Gute siegte. Beneidenswert«, seufzte Gitti.
»Stimmt.
Vor allem war es eine Welt, in der man Gut und Böse noch sicher unterscheiden
konnte. Heute gibt es so unglaublich viele Grautöne, findest du nicht?«
»Ach«,
schwärmte Gitti, »wie ich diese Bücher geliebt habe! Verschlungen habe ich die.
Mein Vater war entsetzt. Er siedelte sie direkt neben Großmutters Schundromanen
an. Wie gern hätte ich Old Shatterhand begleitet oder Winnetou, hätte mich
gefreut, Kara Ben Nemsi zu treffen oder den Herren von Greifenklau in ihre
Abenteuer zu folgen.«
»Tja,
es gibt eine Zeit, in der wünscht man sich weit fort aus der Realität. Wenn
einen die eigene Familie nicht versteht, hält man sich an Freundschaft. Mein
Vater fand, ich solle mich nicht mit den albernen Fantasien eines Schwindlers
beschäftigen, sondern mich lieber ums Hier und Jetzt und meine ganz persönliche
Zukunft kümmern. Und meiner Mutter war es ein Dorn im Auge, dass ich
Jungsbücher las.« Helene fasste ihre üppigen roten Locken mit einem Band zu
einem Zopf zusammen, packte ihre Sporthose aus und zwängte sich hinein. »Ich
muss ein bisschen zugelegt haben«, grinste sie und klopfte dabei liebevoll auf
ihren Oberschenkel.
»Ich
habe im Urlaub auch zugenommen. Ist doch als Erfolg der Auszeit zu werten – oder?
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