Kunst des Feldspiels
Training erscheinen
konnten – oder auch nur so spät, dass sie sich beim Umziehen beeilen mussten.
In drei Jahren am Westish College hatte er sich niemals in Eile umgezogen.
Lange, lange trat er
Wasser. Er fühlte eine nicht endende spontane Kraft aus seinen Gliedern
strömen; es war, als könnte er für immer so weitermachen. Schließlich wandte er
sich dem Ufer zu und ließ sich von seinen Gliedmaßen zurückbringen, unterstützt
von den Wellen, die ihm den Rücken leckten. Als er das Ufer erreicht hatte,
ging er auf alle viere und schlürfte das muffige, algige Wasser wie ein Tier.
Er konnte den Leuchtturm nicht sehen, wusste auch nicht, ob er sich nördlich
oder südlich von ihm befand. Sein Körper gab mit einem Mal auf. Seine Zähne
klapperten, sie schlugen regelrecht aufeinander. Seine Schultern zuckten
krampfhaft nach vorn, es zog ihm die Lunge zusammen. Sein ganzes Leben lag vor
ihm; kein angenehmer Gedanke. Er schälte sich aus seinen nassen Kleidern,
kuschelte sich in den Sand, so tief er konnte, und schlief ein.
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Er erwachte mit den Vögeln, noch bevor sich die Sonne dem
Wasser entgegenstemmte. Die tief hängenden Wolken ließen die Dämmerung noch
schöner erscheinen, sie fingen die sanften Farben auf und verstreuten sie über
den Himmel. Zitternd und in stummem Staunen verfolgte er das Schauspiel. In der
Grundschule hatten sie einmal das Tagebuch der Anne Frank gelesen, und Henry
hatte ganz aufgebracht und beunruhigt gefragt, warum Anne nicht einfach vorgab,
keine Jüdin zu sein. So wie Petrus den Römern entgangen war, indem er sein
Christentum verleugnete. In der Bibel hatte Petrus dafür Ärger bekommen, aber
im Fall der armen Anne, die nicht nur real war, sondern auch noch ein Kind,
wäre es da nicht ganz sinnvoll gewesen? Welchen Unterschied machte es, welchem
Glauben man anhing, wenn man tot war? So fragte ein alarmierter Henry im
leidenschaftlichsten und wahrscheinlich ausführlichsten Redebeitrag seiner
akademischen Laufbahn.
Zunächst einmal sei der Heilige Petrus durchaus eine reale Person
gewesen, hatte der Lehrer geantwortet, außerdem sei das Judentum nichts, was
man sich überstreifen und wieder ablegen könne wie einen Pullover. Das beendete
die Diskussion, stellte Henry jedoch nicht zufrieden. Er begriff nicht, warum
ein Mensch durch den Glauben, den er doch frei wählen konnte, so unwiderruflich
gekennzeichnet wurde.
Ihm war nicht ganz
klar, weshalb er beim Aufwachen daran denken musste – wahrscheinlich das Echo
eines bösen Traumes. Wenn es überhaupt etwas bedeutete, dann wohl, dass er war,
wer er war, und dass er nirgends hingehen konnte als zurück zur Phumber Hall.
Der Bus nach Coshwale würde bald abfahren. Er konnte in sein Zimmer gehen, das
Telefon ausstöpseln und schlafen. Coach Cox würde ihn aus der Mannschaft
schmeißen, aber das machte nichts, weil Schwartzy ihn ohnehin umbringen würde,
was ebenfalls nichts machte, weil Henry müde war und es nicht besser verdiente.
Jetzt wo es beinahe Tag
war, konnte er erkennen, dass es ihn beim Schwimmen etwa hundert Meter in
Richtung Süden abgetrieben hatte. Er bückte sich, schöpfte eine Handvoll
grünliches Wasser, kostete es, spuckte aus. Dann trottete er zum Leuchtturm
zurück, nahm seine Tasche und machte sich auf den Rückweg. Die drei Kilometer
bis zum Campus fühlten sich an wie dreißig. Er ging barfuß, seine
Plastiksandalen hatte er im See verloren. Jeder Stein und jede Wurzel, an denen
er die Ferse heben musste, bereiteten ihm Mühsal. Er hatte seit Donnerstag
nichts gegessen – nicht dass er es jetzt wollte.
Zu Hause angelangt, zog
er den Stecker des blinkenden Anrufbeantworters aus der Steckdose, goss sich
ein Glas Wasser ein und legte sich schlafen.
Es war helllichter Tag,
als er dadurch geweckt wurde, dass jemand wild gegen die Tür trommelte. Er zog
die Decke über den Kopf – Auch das geht vorbei –,
aber das Getrommel hörte nicht auf, und eine weibliche Stimme rief seinen Namen
in Form einer wütenden Frage. Er stolperte in Boxershorts zur Tür, tastete am
Türknauf herum. Draußen stand Pella Affenlight. »Henry«, sagte sie. »Du siehst
übel aus.«
Du
siehst selbst nicht besonders aus, dachte Henry. Sie wirkte tatsächlich müde, so als hätte sie die Nacht
durchgemacht, aber so etwas sagte man niemandem ins Gesicht.
»Tut mir leid, war
nicht so gemeint. Mike ist auf hundertachtzig. Er hat mich alle zehn Minuten
angerufen, natürlich nicht, um mit mir zu reden, na ja … Also, was soll
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